Übers Lebm von de oamen Leit
Schlaglichter auf das Alltagsleben im Wien der späten 20er Jahre werfen die collageartige zusammengeschnittenen Szenen des jüngsten Stücks „Das Milchgeschäft in Ottakring“ im Theater Forum Schwechat. Kund_innen, die anschreiben lassen müssen, weil sie meist nicht genügend Geld haben, um die benötigte Milch oder Semmeln sofort bezahlten zu können, demonstrieren den sozialen Status vieler in der Wiener Vorstadt sozusagen am Vorabend der großen Weltwirtschaftskrise.
Junge, beinahe verzweifelte Frauen, die den einzigen Ausweg zu Auskommen zu gelangen in einem entsprechenden Ehemann sehen, überlegen, welcher da am besten geeignet wäre, tauchen auf. Dem stehen Frauen gegenüber, die mit einem Kind vom Mann verlassen oder so alleingelassen wurden. Aber auch zwei „Strizzis“, die mit immer wieder neuen krummen Geschäftsideen meinen, das große Geld zu machen, treffen einander mehrfach im Geschäft auf.
„Goldgruben“
Auch der Suche nach einem solchen Geschäft als Einkommensquelle für die aus Russland geflüchtete junge Familie sind Szenen gewidmet. Jeder potenzielle Verkäufer eines Ladens preist diesen als wahre Goldgrube an. Und in fünf von sieben Fällen geben die Vor-Besitzer an, lediglich aus familiären Problemen mit der jeweiligen Schwiegermutter verkaufen zu wollen/müssen. So manche Szenen zeigen auch rassistisch gefärbte Anfeindungen der aus Russland stammenden Milchfrau.
Die ständig wechselnden kurzen Szenen ergeben Stück für Stück ein Mosaikbild des Alltagslebens von Menschen aus den unteren Schichten der (vor-)städtischen Gesellschaft.
Lieder mit Live-Klavierbegleitung
Diese Szenen in denen ausschließlich Manuela Seidl (künstlerische Intendantin) und Johannes Kemetter in die Rollen aller fast unzähligen vorkommenden Personen schlüpfen, werden immer wieder unterstrichen bzw. manchmal auch konterkariert von coupletartigen Liedern – live am Klavier begleitet von Gabor Rivo. Die meisten der Songs stammen ebenfalls aus den 20er und 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts, beispielsweise „Am besten hat’s ein Fixangestellter... mit Pensionsberechtigung“ (Hermann Leopoldi), „Irgendwo auf der Welt gibt's ein kleines bisschen Glück, und ich träum' davon in jedem Augenblick“ (Comedian Harmonists).
Tagebuchroman als Basis
Grundlage für das Stück ist der Tagebuchroman „Milchfrau in Ottakring“ von Alexandra Galina Djuragina unter dem Pseudonym Alja Rachmanowa. Geboren im Uralgebiet (die Biographin Ilse Stahr nennt Kasli als Geburtsstadt, Dietmar Grieser im Vorwort zur Tagebuch-Wiederauflage Perm als Herkunftsstadt), stammte sie aus einer wohlhabenden Familie, heiratete in Russland den Österreicher Arnulf von Hoyer, der im 1. Weltkrieg in Gefangenschaft gekommen und nun wieder frei war. Das sozialistische Nachkriegsregime in der UdSSR, von dem sich die Nachkommin einer Gutsfamilie bedroht sah, veranlasste das Paar Mitte der 20er Jahre mit ihrem damals dreijährigen Sohn Jurka Russland zu verlassen.
(Russische) Tagebücher
In Wien angekommen, hatte die Familie aber zunächst keine ökonomische Basis. Mit Geld von Freunden Hoyers erwarben sie ein Milchgeschäft in Wien-Währing (Ecke Schumanngasse/ Hildebrandgasse). Djuragina, nunmehrige Hoyer, hatte zuvor schon in Russland ein Jugendtagebuch („Geheimnisse um Tataren und Götzen“) veröffentlicht. Später erschienen die russischen Tagebücher „Studenten, Liebe, Tscheka und Tod“ sowie „Ehen im roten Sturm“. Auch über ihre Wiener Zeit verfasste sie Tagebücher – auf Russisch, die ihr Ehemann auf Deutsch übersetzte. In diesen nennt sie sich Frau Wagner, ihren Mann Otmar und verlegt das Geschäft nach Ottakring. Dieser dritte Band der Tagebücher wird sogar in 21 Sprachen übersetzt und bis 1938 weit mehr als eine halbe Million verkauft – samt höchst erfolgreicher Lesereisen.
Ambivalent
In der zweiten Hälfte des Jahres 1927 übersiedelt die Familie nach Salzburg wo Arnulf Hoyer eine Stelle als Lehrer bekommt und sie später als Kinderpsychologin arbeitet. Die tiefreligiöse Frau fällt einerseits bei den Nazis in Ungnade, andererseits verteilen sie die ins Russische rückübersetzten Werke der Autorin als antibolschewistische Propaganda an die russische Bevölkerung entlang der Kriegsfront. Knapp vor Kriegsende, am 1. April 1945 stirbt ihr Sohn im Raum Wiener Neustadt auf Seiten der Wehrmacht und die Hoyers flüchten – aus Angst vor der heranrückenden Roten Armee der Sowjetunion - in die Schweiz.
Infos: Was? Wer? Wann? Wo?
Das Milchgeschäft in Ottakring
Nach dem Buch von Alja Rachmanowa
Ein Abend über Heimat, Fremdsein, Flucht, Zuversicht und Selbsthilfe für zwei Schauspieler und einen Mann am Klavier.
Regie und Buch: Marius Schiener
Es spielen: Manuela Seidl und Johannes Kemetter
Live am Klavier: Gabor Rivo
Kostüm und Regieassistenz: Nora Blöchl
Technische Leitung: Matthias Rohrbeck
Bühne: Thomas Fischer, Daniel Truttmann
Assistenz Bühnenbau: Christoph Burko
Eigenproduktion Theater Forum Schwechat
Wann & wo?
Bis 21. März 2019
Theater Forum Schwechat: 2320, Ehrenbrunngasse 24
Telefon: (01) 707 82 72
eMail: theater@forumschwechat.com
www.forumschwechat.com
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