Online-Theater, aber ganz wirklich

Dreht sich alles umd ie geheimnisvolle Gertrude Nesterval - Bildmitte
„Nesterval“ lädt Zuschauer_innen in einen Online-Conferencing-Space zum interaktiven (Theater-)Spiel. Zusatzvorstellungen im Mai.

Wenige Tage nach Beginn der „Haus-Arrest“-Ära haben Theatergruppen und -Häuser begonnen, Aufzeichnungen früherer Stücke tageweise oder auch länger ins Netz zu stellen. „TheterArche“ lud unter Einhaltung aller Abstands- und Personen-Begrenzungs-Regeln, für mehrere Vorstellungen ganz wenige Journalist_innen ein, weil sich „Hikikomori“ mit Selbstisolation beschäftigt.

Das innovative, „immersive“ Theaterkollektiv Nesterval hingegen blieb bei seinem Premieren-Temin des Stücks „Der Kreisky-Test“ (Mitte April), verlegte die Performance aber in die schier unendlichen Weiten des digitalen Kosmos. Und doch auf eng begrenzte Räume. Das Publikum – jeweils höchstens 16 interaktiv mitmachende Besucher_innen wie es auch in der Analog-Version vorgesehen war – betritt gemeinsam – jede/r getrennt aus der eigenen Wohnung – einen Online-Conference-Space.

Verwendet wird die Plattform Zoom - weil kostenlos und recht einfach zu handhaben, auch wenn es Kritik an mangelndem Datenschutz dieser Plattform gibt. Aber die Gruppe lädt ja in einen doch geschlossenen Raum, nein eigentlich mehrere. „Der Kreisky-Test“ verbindet Elemente diverser Casting-Shows mit (gesellschafts-)politischen Inhalten und Fragen.

Hier unten geht's zu einem Vorbericht samt Interview mti dem Regisseur

Du wirst reingezogen

Obwohl natürlich nicht viel aus den konkreten Inhalten und Abläufen verraten werden soll – wäre doch sonst für künftige Besucher_innen mehr verpfuscht als das Ende eines spannenden Krimis zu spoilern, nämlich das gesamte nicht ganz 5/4-stündige Online-Erlebnis, das doch auch von überraschenden Momenten lebt.

So viel kann schon vorweggenommen werden: Es geht weder um Faktenwissen über Bruno Kreisky, den am längsten amtierenden Bundeskanzler Österreichs, dessen Regierungszeit mit vielen Aufbrüchen in Verbindung steht. Schon gar nicht um einen Look-a-like-Contest.

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Screenshot aus dem Theater-Spiel im digitalen Raum

„Verräumte“ Vorkämpferin

Die Kandidat_innen - da es täglich mehrere Performances gibt, wechseln in den meisten Rollen einander zwei Schauspielteams ab – wollen/müssen sich als bestmögliche Vertreter_innen sozialdemokratischer Werte präsentieren. Sie sind die letzten Verbliebenen – acht Personen in vier 2er-Teams – des Contests à la Big Brother, Dschungel-Camp usw.

Der Contest ist eingebettet in einen Plot, der von der Gruppe auch in der Ankündigung dargelegt wird. Die alte Gertrude Nesterval war eine sozialdemokratische Vorkämpferin, aber offensichtlich auch eine Art Rebellin, weil die Partei(führung) zu wenig die ursprünglichen Grundsätze - Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität – verfolgte. Sie verschwand. Und hat offenbar im Untergrund ein „Paradies der Werktätigen“ mit vorbereitet. „Goodby Kreisky“ – das ist Ziel für die Gewinner_innen des „Tests“.  Es ist übrigens das auch der Titel der nächsten Nesterval-Produktion im Herbst – von der alle hoffen, dass sie dann doch analog live – und gemeinsam in real existierenden Räumen – erlebt werden kann.

Online-Theater, aber ganz wirklich

„Fürsorglich“ umhegt

Die Gäste können – in wenigen Augenblicken – eigene Fragen an die vor ihnen auftretenden Protagonist_innen stellen. Über weite Strecken hingegen bekommt das Publikum – auch jeweils in kleinen Teams – Fragen von den großen „Prüfer_innen“ im Hintergrund über ein eigenes Chat-Fenster zugeschickt. Also die „Versorgung“ durch die für alle Lebensbereiche fürsorgende sozialdemokratische Partei – bis ins Kleinste. BTW: Es gab Zeiten, in denen Redakteuer_inen sozialdemokratischer aber auch von KP-Medien bei Pressekonferenzen der jeweiligen Partei-Granden Fragen von den PR-Leuten der Parteiführungen zugesteckt bekamen, die gestellt werden sollten ;(

Online-Theater, aber ganz wirklich

Ausschnitt aus einem der in die Performance eingebauten Filme für "Der Kreisky-Test"

Erstrebenswert?

Die Insel selbst als abgeschlossene „Insel der Seligen“ folgt dem Konzept einer abgekapselten – scheinbaren – Utopie, die mit der Welt da draußen nichts zu tun haben will. Ist da der Sieg, das dorthin zu kommen, überhaupt erstrebenswert? Und vertragen sich die schon genannten vier Prinzipien überhaupt mit dem Kampf ums Weiterkommen mit teilweise Runtermachen von Konkurrent_innen? Und dann poppt – hier nur allgemein angedeutet – auf, dass die in Vergessenheit geratene große Vorkämpferin vielleicht doch auch mit zweifelhaften Mitteln politisch zu agieren versuchte.

So ist auch diese Nesterval-Produktion mit dem zwangsläufigen Einbeziehen des Publikums, das sich nicht wirklich dem Spiel entziehen kann, ein spielerisches Eintauchen in analoge Reflexion während und nach dem Stück. Was versteht diese oder jener Protagnist_in, was aber auch ich selber. Ist jetzt eigentlich meine Entscheidung überhaupt richtig? Wer bin ich, dass ich da entscheiden darf über Weiterkommen oder nicht von anderen Personen? Zum Glück ist’s nur ein Schau-(Spiel).

Online-Theater, aber ganz wirklich

Teil von „Die vielen“

Nesterval“ – die Gruppe hat übrigens anscheinend ein Fake-Profil einer rund ein halbes Jahrtausend zurückreichenden Dynastie einer ausgerechnet Unternehmer-Familie dieses Namens ins Netz gestellt – versteht sich als Teil der (kultur-)politischen Initiative „Die Vielen“. In deren Grundästzen heißt es: „Unsere Gesellschaft ist eine plurale Versammlung, in der viele unterschiedliche Interessen aufeinandertreffen. Das Miteinander in einer Demokratie muss täglich neu verhandelt werden: Es geht um alle, um jede*n Einzelne*n als Wesen der vielen Möglichkeiten.“ An Grundprinzipen werden aufgezählt: Solidarität statt Privilegien. Es geht um alle. Kunst und Kultur bleiben frei.

Online-Theater, aber ganz wirklich

Aktuelle Bezüge

Die Performance war längst vor Corona-Zeiten ausgedacht, geplant, recherchiert – in Österreich, Serbien, Spanien und Italien – und natürlich auch geprobt. Und doch scheint’s … - naja, vielleicht wirkt manches, was als Vorahnung gedeutet werden könnte, auch aus der nachträglichen Betrachtung als wär’s für die aktuelle Situation erdacht ;)

Jedenfalls verstärkt die Reflexion die Haltung, die kontrollierten Botschaften, wonach die „Quarantäne“-Zeiten mit Rückzug aufs eigene private Leben und dem Bösen da draußen doch so viel Positives hätten, noch stärker mehr als in Zweifel zu ziehen.

Follow@kikuheinz

Der Kreisky-Test
Performance / Abenteuer / Uraufführung
Koproduktion von Nesterval, brut Wien und Be SpectACTive! kofinanziert durch das Creative Europe-Programm der Europäischen Union

Buch: Frau Löfberg
Regie: Herr Finnland
 

Zwei Schauspiel-Teams wechseln einander bei den „Vorstellungen“ ab:
Dr. Gertrud Nesterval: immer Astôn Matters

Team rot, Wien:
Prof. Jonas Nesterval, Jo: Christopher Wurmdobler
Moritz Eder: Johannes Scheutz/ Gankerl Walanka

Team weiß, Sansepolcro
Sofia D’Angelo: Alexandra Thompson/ Andy Reiter
Davide Rossi: Niklas-Sven Kerck/ Lukas Kirisits

Team schwarz, Novi Sad
Sneža Kovać: Romy Hrubeš/ Claudia Six
Dalibor Kovać: Bernhard Hablé/ Lorenz Tröbinger

Team grau, Santander
Valerie Ruiz-Espinoza: Laura Hermann/ Pamina Puls
Blanca Ruiz-Espinoza: Julia Fuchs/ Rita Brandneulinger

Swing-Darsteller*innen: Gisa Fellerer, Markus Freistätter

Film: Lorenz Tröbinger
Regieassistenz: Sabine Anders
Kostüm: Andy Reiter


Produktionsleitung: Pamina Puls
Produktion: Willy Mutzenpachner
Grafik: Rita Brandneulinger
Set-Consulting: Andrea Konrad
Sound-Editing: Alkis Vlassakakis
Puppenbau: Claudia Six

Übersetzung / wissenschaftliche Mitarbeit: Marina Paspalj (Serbien), Michaela Schmidlechner (Italien), Cuqui Espinzoa (Spanien)

Analyse: Herr Finnland, Frau Löfberg, Christof Anders, Sabine Anders, Andreas Fleck, Alkis Vlassakakis
Stimme des Nesterval-Fonds: Heidi Neuburger-Dumancic

Check-In: Pamina Puls, Johannes Scheutz, Herr Finnland

Wann & wo?
Bis 24. April 2020 (in deutscher Sprache)
26. bis 28. April 2020 (in englischer Sprache)

Nur mehr Restkarten

Im Internet: via kostenlosem Conference-Tool Zoom

Tickets: 39 € (KünstlerInnen-Solidaritätspreis) bzw. 23 € oder 18 €

Zusatzvorstellungen

Wegen des großen Online-Erfolgs von Nestervals „Der Kreisky-Test“ gibt es im Mai Zusatzvorstellungen:
4. Mai 2020
18 Uhr (in englischer Sprache)
20.30 Uhr (in deutscher Sprache)

5., 7., 8., 11., 12. Mai 2020
jeweils 18 und 20.30 Uhr
(in deutscher Sprache)

Außerdem findet am 1. Mai 2020 um 20 Uhr ein Publikumsgespräch in englischer Sprache statt. Anmeldung erforderlich auf brut-wien.at

nesterval.at/

brut-wien -> Der Kreisky Test

bespectactive.eu

https://dievielen.at/

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