Wie künstliche Intelligenz Krankheiten früher erkennt als ein Arzt
Richard Reckendorfer, 49, ist seit 24 Jahren Typ-1-Diabetiker. Regelmäßig kommt er auf die Diabetesambulanz im AKH Wien / MedUni Wien. „Das letzte Mal haben sie mich auf der Ambulanz zu einer Augenuntersuchung mit einem neuen Gerät gebeten. Nach wenigen Minuten wusste ich, dass ich auch von einer durch Diabetes hervorgerufenen Erkrankung der Netzhaut des Auges – der diabetischen Retinopathie – betroffen bin.“ Reckendorfer wurde mit dem ersten in der EU zugelassenen digitalen Diagnosegerät untersucht:
Eine digitale Kamera macht durch die Pupille hindurch hochauflösende Bilder der Netzhaut. Danach kommt ein spezielles Computerprogramm, ein „Algorithmus“, zum Einsatz: „Anhand von Zehntausenden Patientendaten hat er gelernt, typische Gefäßveränderungen – kleinste Verschlüsse, Blutungen, Ausbeulungen – zu erkennen“, sagt Ursula-Schmidt-Erfurth, Leiterin der Uni-Klinik für Augenheilkunde und Optometrie. Sie ist mit ihrer Klinik weltweit bei der Entwicklung solcher Algorithmen führend. „Wir sind Pioniere auf dem Gebiet.“
KURIER: Wo setzen Sie künstliche Intelligenz als Diagnose-Unterstützung bereits ein?
Ursula Schmidt-Erfurth: Das eine ist die diabetische Netzhauterkrankung. Digitale Bilder der Netzhaut werden mit zwei Millionen Pixel aufgenommen und mit einem Algorithmus, einer digitalen Formel, analysiert. Wir sind darauf spezialisiert, Netzhautbilder auszuwerten und sind mit 600 Zentren weltweit verbunden. Dadurch haben wir Zugang zu sehr vielen Patientendaten, die spezifisch sind für ganz spezielle Erkrankungen.
Künstliche Intelligenz kann Zehntausende Befunde analysieren und bestimmte individuelle und generelle Muster ablesen. Ein Algorithmus erkennt kleinste Gefäßverschlüsse, Blutungen oder andere Veränderungen. Er ist wie ein eingebauter Augenarzt, der schon sehr viele Diabetiker gesehen hat – nur viel genauer. Innerhalb von Minuten weiß ich: Dieser Patient hat ein mildes, dieser ein moderates und dieser ein fortgeschrittenes diabetisches Netzhautleiden. Diese erste Augenuntersuchung macht ein Diabetologe, weiterführende ein Augenarzt.
So können Gefäßveränderungen früher erkannt werden?
Ja, teilweise bevor es zu ersten Symptomen kommt. Das liegt nicht an schlechterer Qualität des Augenarztes, sondern am Auflösungsvermögen. Ein menschliches Auge kann nicht zwei Millionen Punkte pro Bild abtasten. Das Tolle an der digitalen Medizin ist: Jeder einzelne Gewebepunkt kann überprüft werden. Und es werden sehr früh geringste Veränderungen entdeckt. Dieses Diagnosegerät ist wie ein Super-Ultra-Mikroskop, das in die Netzhaut ganz genau hineinblickt. Studien haben bestätigt, dass die Präzision größer ist als von auf derartige Diagnosen spezialisierten Augenärzten. Der Augenarzt wird aber nicht überflüssig: Er führt weitere Untersuchungen durch und nützt die Unterstützung durch dieses Diagnosegerät für die optimale, individuelle Therapieplanung.
Diese Diagnosemethode gibt es schon in der Routine?
Am Wiener AKH wird sie auf der Diabetologie regelmäßig eingesetzt, andere Diabetesabteilungen in Wien werden sie demnächst mit unserer Unterstützung einführen. Nur rund 15 Prozent der Diabetiker gehen regelmäßig zu den empfohlenen Augenarztkontrollen. Die anderen gehen erst, wenn das Sehvermögen verschlechtert ist – aber dann ist oft bereits sehr viel von der Netzhaut zerstört. In Zukunft kann der Patient direkt beim Diabetologen ein Augenscreening machen – und weiß sofort, ob er noch zum Augenarzt für eine weiterführende Kontrolle gehen muss.
Sie setzen künstliche Intelligenz auch für die Erkennung anderer Augenleiden ein?
Ja. Dabei geht es etwa um die feuchte Makuladegeneration, die häufigste Ursache für Erblindung: Undichte Blutgefäße wachsen in die Makula (siehe links) hinein, Flüssigkeit lagert sich ab und Sehzellen sterben ab. Die niedergelassenen Augenärzte haben für die Diagnose ein spezielles Laserverfahren zur Verfügung (OCT: Optische Kohärenztomografie). Moderne Geräte schauen mit 80 Millionen Datenpunkten, manche sogar mit bereits 400 Millionen, in alle elf Schichten der Netzhaut hinein.
Derzeit können die Augenärzte nur Übersichtsbilder, aber nicht alle Tausenden Einzelaufnahmen der Netzhautschichten auswerten. Sie können nicht messen, wie stark die Flüssigkeitsmenge – als Effekt einer Therapie – weniger wird, und ob sie überhaupt weniger wird. Es ist unmöglich, mit dem menschlichen Auge hunderte kleine Flüssigkeitsbläschen abzuzählen.
Und künstliche Intelligenz kann das?
Wir haben einen Algorithmus genau darauf trainiert, die Flüssigkeitsmenge zu bestimmen. Ein weiterer Algorithmus erkennt Ablagerungen in der Netzhaut bei Patienten, die mit großer Wahrscheinlichkeit eine feuchte Makuladegeneration entwickeln werden. Mit freiem Auge sind sie nicht sichtbar. Diese Patienten kann man engmaschiger kontrollieren. Wenn ein Patient an einem Auge schon erkrankt ist, ist es wichtig, rechtzeitig zu erkennen, ob das andere auch betroffen ist. Denn jede kleinste Veränderung in der Netzhaut führt zu einem Sehverlust und der ist irreversibel.
Es gibt auch Überlegungen, zum Beispiel Herzerkrankungen über die Netzhaut zu diagnostizieren?
Die Netzhaut ist ein Fenster zum gesamten Organismus. Man kann dort, im Gegensatz zum Gehirn oder zum Herz, direkt auf die Gefäße schauen. Sie ist ein Spiegelbild für den Gesamtzustand des Patienten. Wir suchen Veränderungen, die sich bei einer Herzgefäßerkrankung mit hoher Treffsicherheit auch in der Netzhaut bemerkbar machen – etwa bestimmte Gefäßverengungen oder eine Verringerung des Blutflusses. Dann hätte man eine optimale Vorsorgeuntersuchung, die praktisch nichts kostet, automatisiert ist und den Patienten nicht beeinträchtigt.
Info: Wo das Sehvermögen entsteht
Netzhaut
Die Netzhaut im hinteren Bereich des Augapfels wandelt Licht in Nervenimpulse um. „Sie ist ein Ort riesiger Datenmengen“, sagt Schmidt-Erfurth. Auf einer Fläche von wenigen Quadratzentimetern besitzt sie rund 126 Millionen lichtempfindliche Sinneszellen. Sie ist 0,2 Millimeter dünn und besteht aus elf Schichten.
Makula
Die Makula („gelber Fleck“) ist „die Netzhaut in der Netzhaut“ bzw. „das Auge im Auge“ (Schmidt-Erfurth). In einem Areal von nur 1,5 mm Durchmesser befinden sich 90 Prozent der für das zentrale Sehen notwendigen Lichtrezeptoren. Kleinste Veränderungen können zu einem schweren Verlust des Sehvermögens führen.
Kommentare