Soziale Medien "sind nicht der einzige bestimmende Faktor"
"Der Anstieg der psychischen Erkrankungen ist durchaus zeitgleich mit der Verbreitung von sozialen Medien aufgetreten", sagt Paul Plener, Leiter der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der MedUni Wien. Mit einfachen Zuschreibungen müsse man dennoch vorsichtig sein. "Auch viele andere Dinge haben sich in diesem Zeitraum verändert. Neben unserem Ernährungsmuster etwa auch das Ausmaß, in dem wir uns körperlich bewegen – immer weniger. Das sind Dinge, die – zusätzlich zu weltpolitischen Krisen oder dem Klimawandel –, unsere psychische Gesundheit stark beeinflussen." Soziale Medien spielten im Gesamtzusammenhang sicher eine Rolle, "aber sie sind nicht der einzige bestimmende Faktor".
In Studien zeigen sich immer wieder Zusammenhänge zwischen intensiver Smartphone- oder Social-Media-Nutzung und psychischen Belastungen. "Aber in diesen Studien werden meist keine Diagnosen, wie Depressionen zum Beispiel, erhoben, sondern es wird mit Fragebögen das Wohlbefinden abgefragt. Und nur weil zwei Sachen zeitgleich auftreten, heißt das nicht, dass sie tatsächlich zusammenhängen oder dass das eine das andere auslöst", erläutert Plener. Kürzlich kamen Forschende in einer Untersuchung etwa zu dem Ergebnis, dass Menschen, die emotional belastet sind, mehr Zeit auf sozialen Medien verbringen. "Um aufzuklären, wie etwaige Zusammenhänge ausgestaltet sind, braucht man Studien, die über lange Zeiträume immer wieder die gleichen Personen untersuchen. Davon gibt es eine Handvoll, die uns lediglich kleine direkte Effekte von Social Media auf die psychische Gesundheit zeigen."
Bildschirmzeit limitieren
Dennoch hält der Kinder- und Jugendpsychiater Maßnahmen, die die Zeit, die Kinder auf sozialen Medien verbringen, beschränken, für sinnvoll. "In Summe wird sehr viel Zeit mit dem Smartphone verbracht. Kinder und Jugendliche sind in Österreich im Schnitt jeden Tag dreieinhalb Stunden damit befasst. Das heißt, es geht automatisch Zeit für soziale Interaktion im echten Leben verloren", betont Plener. "Denkt man psychische Gesundheit weiter, muss man die Wichtigkeit von Bewegung, Schlaf und sozialen Beziehungen sehen – und überlegen, wo dafür die Zeit herkommen soll."
Plener begrüßt Handyverbote an Schulen, entlässt Eltern aber nicht aus der Pflicht: "Die Zeit am Smartphone zu begrenzen ist eine erzieherische Aufgabe, die primär bei den Eltern liegt."
Aussagekräftige Daten gibt es dazu, dass bestimmte Gruppen von Kindern empfänglicher für die negativen Auswirkungen sozialer Medien sind: Mädchen, sehr junge Kinder und Jugendliche mit bestehenden psychischen Problemen. "Es gibt auch eine spannende, große Längsschnittstudie, die eine geschlechterspezifisch vulnerable Altersperiode gezeigt hat. Bei Mädchen sieht man im Alter von 12 bis 13 Jahren, dass der Konsum negative Auswirkungen auf das Wohlbefinden hat. Bei Buben ist diese Phase später, im Alter von 14 bis 15 Jahren. Das sind spannenderweise jene Altersphasen, wo wir wissen, dass auch Mobbing besonders schädliche Folgen hat."
Smartphone: Nicht zu früh in Kinderhände
Ab wann Kinder bereit sind, soziale Medien zu nutzen, lasse sich pauschal nicht sagen. Zu unterschiedlich seien Heranwachsende in ihrer Entwicklung. "Aus der Forschung lässt sich aber ableiten, dass ein späterer Einstieg wohl günstiger ist, weil eine höhere Reflexionsfähigkeit gegeben ist."
Entzieht man Jugendlichen das Smartphone oder auch soziale Medien bzw. Messenger-Dienste komplett, müsse man sich bewusst sein, "dass diese Teenager auf Peergroup-Ebene vieles nicht mitbekommen und nicht vollständig am Leben Gleichaltriger teilhaben können". Als Gesellschaft, sagt Plener, "wäre es aber sehr vernünftig, wenn wir diesen Druck nicht auf Volksschulkinder ausdehnen". Dass immer mehr Eltern ihre Kinder in der Volksschule mit Smartwachtes oder gar Smartphones ausstatten, um eine Art digitale Nabelschnur aufrechtzuerhalten, sieht er kritisch.
Die Gefahren, denen Kinder auf sozialen Plattformen ausgesetzt sind, liegen laut Plener auf der Hand: "Es muss einem klar sein, dass sobald ein Smartphone in die Hände von experimentierfreudigen Jugendlichen gelangt, ungefiltert Inhalte an sie herankommen." Es könne zu Cybermobbing genauso kommen wie zur Konfrontation mit gewaltvollen Inhalten, die auch in Richtung Extremismusgefährdung gehen können, und pornografischen Darstellungen.
Anders als die Handysucht ist die Gaming Disorder, die Computerspielsucht, inzwischen eine offizielle Diagnose. Allerdings findet man als Kriterium keine Stundenzahl, sondern allgemeine Suchtkriterien, wie sie etwa auch bei Alkoholabhängigkeit zur Anwendung kommen. Etwa die Toleranzentwicklung – man muss mehr konsumieren für die gewünschten Effekte –, der Kontrollverlust beim Konsum – man konsumiert immer mehr, ohne es eindämmen zu können –, und die Inkaufnahme negativer Folgen des Konsums.
Soziale Teilhabe von Jugendlichen nicht blockieren
Soziale Medien sind in einer digitalen Welt für Jugendliche im Sinne der sozialen Teilhabe auch wichtig, sagt Plener. "Der relevanteste Faktor bleibt die Zeit. Habe ich noch genug Zeit für reale Kontaktpflege, zum Beispiel im Verein, in der großen Pause am Schulhof oder anderswo. Hier sehe ich die größte Gefahr – und nicht so sehr darin, dass soziale Medien tatsächlich direkt und unmittelbar die psychische Gesundheit schädigen."
Dass tägliches, stundenlanges Starren auf Social-Media-Feeds keinerlei Spuren im noch reifenden Gehirn hinterlässt, mag für Laien unplausibel erscheinen. In Studien lassen sich eindeutige Effekte aber kaum nachweisen, betont Plener. "In der weltgrößten Studie mit mehreren Messzeitpunkten wurden bei der ersten Messung nach zwei Jahren keine Veränderungen im Gehirn von Kindern festgestellt. In der Vierjahresauswertung zeigten sich Volumenveränderungen im Kleinhirn: weniger bei Social-Media-Gebrauch, mehr bei Videospielen. Allerdings waren diese Veränderungen so gering, dass sie von den Studienautoren als irrelevant eingestuft wurden." In einer anderen aktuellen Langzeitstudie fand man bei Jugendlichen, die ihre Social-Media-Feeds häufiger abfragten, eine höhere Aktivierung in Arealen, die in Verbindung mit der Antizipation von sozialem Feedback stehen.
Eltern kommt als Vorbild im Umgang mit sozialen Medien und dem Smartphone jedenfalls enorme Bedeutung zu. "Kinder lernen in der Familie, welcher Stellenwert dem Handy beigemessen wird. Es ist wichtig, klare Regeln für den Umgang zu haben, die auch Eltern einhalten. Zum Beispiel kein Handy beim Essen oder gemeinsamen Aktivitäten. Nur wenn Mütter und Väter einen achtsamen Umgang vorleben, können sie einen solchen auch von ihren Kindern erwarten."
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