Hyperaktive Kinder: Bekommen sie zu viel oder zu wenig Ritalin?

Bis zu vier Prozent der Kinder sind laut Studien von ADHS betroffen.
Diagnose ADHS. Der Verbrauch des Wirkstoffs hat sich verzehnfacht. Die Gründe können vielfach sein.

„Das Kind ist zu unkonzentriert, kann nicht still sitzen – Verdacht auf ADHS.“ Damit werden dem Kinder- und Jugendpsychiater Christian Kienbacher viele Kinder zugewiesen, von Schulen, Jugendämtern, Ärzten. „Doch von zehn Verdachtsdiagnosen bestätigen sich dann letztlich vielleicht zwei“, sagt der ärztliche Leiter des SOS-Kinderdorf-Ambulatoriums für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Wien-Floridsdorf. „Und von diesen beiden bekommt dann einer Medikamente.“

Ähnliches berichtet auch Tiroler Kinderpsychiaterin Kathrin Sevecke: „Wir bestätigen nur an die 60 Prozent der von außen kommenden ADHS-Verdachtsdiagnosen bei Kindern und Jugendlichen. Und von diesen erhalten nur rund 50 Prozent Medikamente. Nicht nur Methylphenidat (Ritalin), auch andere Wirkstoffe.“

Um Medikamente gegen ADHS ist jetzt aber wieder eine Diskussion aufgeflammt – vor allem um den klassischen ADHS-Wirkstoff Methylphenidat (Ritalin): „In Deutschland ist der Verbrauch innerhalb von 20 Jahren auf das 50-fache gestiegen, in Österreich zwischen 2002 und 2014 um das Zehnfache“, kritisierte der Kinderarzt Ludwig Rauter (Krankenhaus Leoben) bei der Apotheker-Fortbildungstagung in Schladming. „Das ist eigentlich eine Katastrophe.“

„Sorgsamer Umgang“

„International gesehen haben wir bei Kindern und Jugendlichen einen sehr sorgsamen Umgang mit dem Wirkstoff“, betont Kienbacher. Er verweist auf internationale Daten: „Wir haben gemeinsam mit Frankreich die niedrigsten Verschreibungsrate.“ (siehe Grafik)

Hyperaktive Kinder: Bekommen sie zu viel oder zu wenig Ritalin?

Warum steigt aber dann der Verbrauch so stark an?

„Auch mit ausgeprägten ADHS-Symptomen erhielten bisher viele Kinder keine Therapie“, sagt Sevecke: „Diese psychiatrische Erkrankung war bisher unterdiagnostiziert – auch durch den Mangel an Kinderpsychiatern.“

Bei rund einem Drittel bleiben die ADHS-Symptome auch im Erwachsenenalter bestehen. „Erst seit einigen Jahren gibt es die Tendenz, Erwachsene weiter zu behandeln, weil sie davon profitieren. Diese benötigen aber aufgrund ihres größeren Gewichts eine höhere Dosis“, erklärt Kienbacher.

Und es gibt die missbräuchliche Verwendung bei Erwachsenen zur Leistungssteigerung und auch Appetitreduktion, sagt Sevecke.

Wenig Therapieplätze

„Der Zugang zu einem kassenfinanzierten Medikament ist viel leichter als zu einem Therapieplatz auf Kassenkosten– egal, ob Ergo-, Logo- oder Psychotherapie“, sagt Kienbacher. „Gerade hatte ich einen sechsjährigen Buben bei uns im Ambulatorium, für den wir seit zehn Monaten eine kassenfinanzierte Logopädie suchen. Da haben wir echt ein Problem.“ Nicht medikamentöse Therapien seien aber immer die erste Wahl – erst in einem zweiten Schritt gehe es um Medikamente.

Ob ein Kind tatsächlich ADHS hat, lässt sich nur mit einer umfangreichen Diagnostik feststellen. Die Hyperaktivität und die Probleme mit der Aufmerksamkeit müssen schon „massiv ausgeprägt“ sein. Laut dem Verein „Adapt – Arbeitsgruppe zur Förderung von Personen mit ADHS“ seien besonders „eine Unstetigkeit der Aufmerksamkeit (ein Hyperfokussieren, da totale Ablenkung) sowie emotionale/soziale Probleme“ für das Syndrom charakteristisch.

„Ritalin ist keine Wunderdroge“, betont Kienbacher. „Aber von den Kindern, die erwiesenermaßen ADHS haben, profitiert ein großer Teil davon.“ Und: „Mit diesem Medikament gibt es jahrzehntelange Erfahrungen – und es gibt kein Medikament mit derart vielen Studien bei Kindern und Jugendlichen.“

Nachgefragt: Ausführliche Tests notwendig

Kathrin Sevecke leitet die Uni-Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Kindes- und Jugendalter in Hall in Tirol.

KURIER: Bekommen besonders aktive Kinder mit Aufmerksamkeitsproblemen in Österreich zu rasch ein Medikament verschrieben?
Kathrin Sevecke: So kann man das nicht sehen. Die Kinder-, aber auch die Erwachsenenpsychiatrie waren in Österreich, aber auch in Deutschland in Bezug auf ADHS lange Zeit in einem Dornröschenschlaf. Viele Kinder, die ganz eindeutig an ADHS leiden, bekamen lange Zeit keine Diagnose und keine Therapie – egal welche. Es wurde bisher zu selten diagnostiziert.

Erhalten auch Kinder Ritalin, die gar nicht ADHS haben?
Natürlich gibt es Fälle, wo eine Therapie ohne ausreichende Diagnostik erfolgt und sich später herausstellt, das Kind hat gar kein ADHS.   Eine Diagnose sollte immer von einem Kinder- und Jugendpsychiater gestellt werden, schließlich handelt es sich um eine psychiatrische Erkrankung. Bei uns sind zur Abklärung drei Termine notwendig, inklusive ausführlicher Aufmerksamkeits- und Leistungstests.

Über welchen Zeitraum sind Medikamente notwendig?
Das ist extrem unterschiedlich. Es sollten immer wieder Auslassversuche unternommen werden, also etwa eine Unterbrechung der Medikamentengabe in den Ferien. Bei manchen Ärzten sehen wir, dass die  Medikamente Jahr für Jahr automatisch neu verschrieben werden, ohne zu berücksichtigen, dass sich die Kinder ja entwickeln –  das ist keine zeitgemäße Therapie.

 

 

 

 

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