Die Nerven liegen blank und nur ein Stück Pizza spendet Trost. Auf die Dauer ist Stressessen aber keine Lösung. Wie bekommt man Appetit und Essverhalten unter Kontrolle?
Zum Frühstück gibt es Tee und Croissant, um zehn Uhr Kaffee mit einem Stück Gugelhupf, den der Kollege mitgenommen hat. Ab elf Uhr werden Pläne fürs Mittagessen geschmiedet und nachmittags belohnt die Handvoll Gummibärli für das bisher geleistete Werk. Und nach der Pizza am Abend feiert beim Serienschauen das Chipspackerl seinen Szenenauftritt im Wohnzimmer. So oder so ähnlich essen wir uns kontinuierlich durch den Tag. Gerade wenn die Belastung hoch ist, mutieren wir zum Mampfer in unserem ureigenen Pac-Man-Spiel: die aufgereihten Leckerbissen werden aufgelesen und geschluckt, ohne Unterlass. Stressessen ist immer impulsiv. An die möglichen gesundheitlichen Folgen – etwa Übergewicht und Karies, Diabetes und Herz-Kreislauf-Krankheiten – werden eher weniger Gedanken verschwendet.
Game over
Stress versetzt uns seit jeher in Alarmbereitschaft. Dann schüttet der Körper unter anderem das Hormon Adrenalin aus und spornt damit zum Weglaufen oder Kämpfen an – was immer eben notwendig ist. Voll überschießender Energie denkt der Mensch jetzt nicht an Nahrung. Erst wenn der Ausnahmemoment vorüber ist, fordert der Organismus die verbrauchte Energie zurück; Appetit regt sich. Doch während unsere Steinzeit-Vorfahren sich mit Säbelzahntigern und rivalisierenden Gruppen auseinandersetzen mussten, handelt es sich heute meistens um eine geistige Anspannung, die dem Körper weit weniger Energie abverlangt als Flucht oder Kampf. Aber nach dem Adrenalinschub setzt der Körper immer noch sein Hungersignal ab und giert dann besonders nach leicht aufschließbaren Kohlenhydraten – wie man sie etwa in einer Chipspackung findet.
Außerdem spielt das bei Stress ausgeschüttete Cortisol mit: Es macht das Gehirn nicht nur leistungsfähiger, sondern hilft, Glukose als schnell verfügbare Energiequelle zu nutzen. Süße Snacks sind dafür der ideale Treibstoff. Und gibt man dem Verlangen nach, belohnt das der Körper mit der Ausschüttung von Glückshormonen wie Serotonin und Dopamin. Stressessen ist damit nicht nur impulsiv, sondern hat viel mit Befriedigung zu tun – und wird durch erlerntes Verhalten befeuert: Wer ständig Stress ausgesetzt ist, will dafür belohnt werden, dass er ihm standhält – und greift damit zu Schokolade und Co., um ein Glücksgefühl hervorzurufen.
Die Frage ist: Wie kommt man da raus? Und ab wann beginnt es, krankhaft zu werden?
„Diese emotionalen Erfahrungen gehören grundsätzlich zu einem normalen Essverhalten“, erklärt Ernährungswissenschafterin Nicole Seiler von der Kochwerkstatt Flotte Lotte in Baden. „Wir haben gelernt, unsere negativen Stimmungen möglichst rasch mit etwas Positivem zu verbessern. Und das hat eben sehr häufig mit dem Essen zu tun, weil es schnell verfügbar und leistbar ist – und beruhigt.“ Schokoriegel, Kekse oder Gummibärli werden dann zum Trostspender bzw. Lustverstärker: „Jeder Mensch lernt sein eigenes System und wählt in einer bestimmten Gefühlslage bestimmte Lebensmittel oder Speisen zur psychischen Regulierung.“ Für den Körper aber bedeutet das vor allem ,leere’ Kalorien, und er wird durch die schlechtere Verdaubarkeit zusätzlich belastet.„Gastritis oder Reizdarmbeschwerden können die Folge sein“, so Nicole Seiler. Ist der Griff in die Süßigkeitenlade aber wirklich Ausnahmesituationen vorbehalten, wird der Körper die kleine Sünde eher wegstecken. „Problematisch wird es, wenn Essen als einzige Alternative zum Entspannen oder zur Belohnung eingesetzt wird“, warnt die Ernährungsberaterin.
Wir haben gelernt, unsere negativen Stimmungen möglichst rasch mit etwas Positivem zu verbessern. Und das hat eben sehr häufig mit dem Essen zu tun, weil es schnell verfüg- und leistbar ist – und beruhigt.“
von Nicole Seiler
Kochwerkstatt Flotte Lotte in Baden, www.flotte-lotte.at
Sich langfristige Maßnahmen gegen Stress anzueignen, ist nur von Vorteil; zu tief hat er sich bereits in unsere Lebensweise hineingefressen: Laut einer Studie der Allianz Versicherung aus dem Jahr 2017 spüren 39 Prozent aller Österreicher eine hohe berufliche Belastung. 25 Prozent geben an, dass der Druck selbst in der Freizeit nicht mehr nachlässt. Die Abfolge aus Stress und Belohnung mündet da schnell in einen Teufelskreis aus Aktion und Reaktion. „Man muss sich nur selbst ein bisschen beobachten, um herauszufinden, ob man zum Stressessen neigt“, so Seiler. Und erkennt man in sich erst die menschliche Version des Pac-Man-Mampfers, müssen die Spielregeln geändert werden.
Aufstieg ins nächste Level
Statt bei der nächsten Stressattacke zum Essen zu greifen, rät Nicole Seiler zu Alternativen: etwa eine Kurzmeditation, Atem- und Yogaübungen oder ein Spaziergang an der frischen Luft. Auch ein lockeres Gespräch mit Freunden oder Kollegen löst Anspannungen. „Langfristig ist aber ein Schlachtplan für erwartete Stresssituationen ratsam“, so die Expertin. Der benötigt Vorbereitung. Zu überlegen ist etwa, wie man geplante Pausen sinnvoll nutzen kann. Ein ausgewogenes Frühstück, für das man sich Zeit nimmt, wappnet ebenfalls für den Tag, und Kochfreunde bereiten sich ihr Essen zu Hause vor und nehmen es mit. So tappen sie mittags nicht in die Fast-Food-Falle. Auch regelmäßige Bewegung bringt Schwung in den festgefahrenen Alltag: „Durch gleichmäßige, entspannte Bewegung entspannen sich die Muskeln und der Verdauungstrakt. Der Blutfluss und der Herzrhythmus sind regelmäßiger, die Atmung tiefer“, so Seiler. „Dadurch wird der Kopf gut durchlüftet und frei. Die Gedanken ordnen sich neu.“
Neu gemischte Karten
Bei aller Warnung vor zügellosem Essensdrang kann man der Alltagshektik kontrolliert auch kulinarisch begegnen. „Entspannende Kräutertees decken nicht nur den erhöhten Flüssigkeitsbedarf“, so Nicole Seiler. „Warme Gewürze wie Zimt, Nelken, Kardamom oder Muskat versetzen uns in angenehme Hochstimmung.“ Als das Nervenvitamin schlechthin gilt Vitamin B1, das in Vollkorngetreide und in Hülsenfrüchten zu finden ist.
Obst- und Gemüse-Snacks bereichern ebenfalls den Tag:„Das enthaltene Kalium und Magnesium entspannt“, so die Ernährungswissenschafterin. „Und die Omega-3-Fettsäuren in Walnüssen, Hanf, Leinsamen und Fischen machen nicht nur die Blutgefäße sauber und geschmeidig, sondern helfen beim vernetzten Denken und schmieren die Nervenstränge.“ Beim Besuch in der Kantine sollte man hingegen auf fettreiche tierische Speisen wie Schnitzel und Leberkäse verzichten. Auch die Cremetorte zum Dessert bedeutet für den Körper Zusatzarbeit und beansprucht eine lange Verdauungszeit. „Die daraus folgende Energielosigkeit verstärkt oft den Stress zusätzlich“, so Seiler. „Zudem spielt Zucker mit seinem schnellen, aber kurzen Energieschub den gemeinen Verführer.“ Vorsicht ist bei Kaffee geboten. Er wirkt zwar konzentrationsfördernd und anregend, kann aber eine erhöhte Reizbarkeit und „jagende“ Gedanken erzeugen: „Besonders bei diffizilen geistigen Anforderungen ist der Spielraum zwischen der Steigerung der geistigen Fähigkeiten und einer beginnenden Nervosität und Reizbarkeit sehr eng“, warnt die Expertin.
Das eine Allheilmittel gegen Stressessen gibt es nicht. Jeder muss sein Spiel machen – wer aber den Überblick über seine Karten bewahrt und sie geschickt einsetzt, kann das Blatt wenden.
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