Eine lange Zeit ohne wummernde Musik, flackerndes Licht und eine gehörige Portion Leichtigkeit. Wer einst nach Stunden auf der Tanzfläche am Heimweg im gleißenden Sonnenlicht fluchte „Ich bin zu alt für den Schaß“, mag sich wünschen, diese Worte nie in den Mund genommen zu haben.
Und manche würden schon wieder in Kauf nehmen, vor der Tür ab und zu einem prüfenden Blick ausgesetzt zu sein und ein „Heute leider nicht“ zu hören. Immerhin geht seit 15 Monaten wegen Corona und den Beschränkungen nichts mehr im Nachtleben.
Wer große Sehnsucht nach dem Leben von vor 15 Monaten und noch dazu große Vorstellungskraft hat, kann eventuell noch einen der vielen Live-Streams im Internet aufdrehen und sich die Masse in der leeren Disco dazudenken. Ein paar Menschen wollen – ob das vernünftig ist, sei dahingestellt – ihre Imaginationskraft nicht bemühen und ein Ende der Beschränkungen nicht abwarten. Sie feiern illegal im Untergrund.
So geht es weiter
Immerhin: Das viel zitierte Licht am Ende des Tunnels scheint schon ein bisschen die Discokugel an. Wie aber sieht eigentlich das geregelte Nachtleben in Zukunft aus, wenn es wieder losgeht?
Die freizeit hat in der unangefochtenen Partyhauptstadt bei der Berliner Clubcommission nachgefragt. „Es sind zwei Richtungen möglich“, meint Lutz Leichsenring, Sprecher und Vorstandsmitglied der Organisation, die die Interessen der dortigen Partyszene vertritt. „Schon vor Corona gab es den Trend zum Gesunden, zur bewussten Ernährung, zur Regionalität und kleinen Veranstaltungen im familiären Umfeld. Das wird es auch weiterhin geben.“
Auf der anderen Seite: „Es kann total exzessiv werden wie in den Roaring Twenties. Das ist auch verständlich, die Menschen mussten sich mehr als ein Jahr lang in Enthaltsamkeit üben. Sie sehnen sich nach einem Gemeinschaftsgefühl.“
Differenziert sieht die Zukunft des Nachtlebens auch Bernhard Heinzlmaier vom Institut für Jugendkulturforschung. „Die obere Gesellschaftsschicht wird schnell wieder Gas geben. Da werden sich all jene einfinden, die nicht von der Pandemie überfahren worden sind.“ Ab der unteren Mittelschicht hingegen habe sich eine Lethargie eingeschlichen. „Es fehlt an Geld, Ausbildung, die Eltern haben Probleme.“
Große Exzesse und Erinnerungen an die Roaring Twentys sieht Heinzlmaier in der nächsten Zeit eher nicht. Denn es gehe beim Großteil der jungen Menschen weiter wie vor der Pandemie. „Es wird ein ordentliches, angepasstes Feiern geben, das erlaubt ist. Man zieht sich brav an. Schaut, dass die neue Hose nicht dreckig wird.“ Und speiübel dürfe den Nachtschwärmern auch nicht werden. Man solle ja am nächsten Tag wieder arbeiten können.
Der Boden muss so sein, dass man das Gucci-Tascherl hinstellen kann
von Bernhard Heinzlmaier
Jugendforscher
Das decke sich auch mit Studien. „Fast 80 Prozent der jungen Menschen sprechen sich für Sauberkeit, Ordnung und Sparsamkeit aus.“ Wenn etwas fröhliche Urständ feiert, dann ist es wohl das neue Biedermeier. Daher seien auch mehr schicke Räume als dreckige Keller gefragt. „Der Boden muss so sein, dass man das Gucci-Tascherl hinstellen kann“, sagt der Jugendkulturforscher.
Und was Heinzlmaier noch sieht: „Es wird verstärkt zur sozialen Segregation kommen. Die unterschiedlichen Milieus entfernen sich viel weiter voneinander. Es gibt keine Durchmischung mehr.“
Den Moment festhalten
Und auch wenn einige Lokale auf Fotoverbote setzen, soziale Medien wie Instagram werden weiterhin sehr präsent sein. „Die Leute präsentieren sich, da sieht man sehr schnell, wer wo dazugehört“, erklärt der Sozialwissenschaftler. Das Fortgeh-Outfit muss im richtigen Licht erscheinen. Alle sollen sehen, wie toll man es gerade mit der Clique hat. Ob das wiederum für die Qualität des ungezwungenen Spaßhabens förderlich ist, darüber kann man trefflich diskutieren.
Ein paar Gruppen gibt es aber noch, die ab und zu richtig auf den Putz hauen wollen. Und das nicht immer unbedingt in der eigenen Stadt. Die europäische Partymeute flog vor Corona am Wochenende zur großen Party in die Lagerhalle nach Amsterdam, zum Festival nach Barcelona oder zur Clubtour durch London oder Berlin.
Die EasyJet-Raver, wie die Touristen vor einigen Jahren in der deutschen Hauptstadt nicht nur freundlich genannt wurden, werden es wohl zunehmend schwieriger haben, billige Flüge zu bekommen. „Das muss nicht unbedingt negativ sein. Menschen werden nicht nur für ein Wochenende zum Feiern fliegen, sondern länger bleiben. Das ist durchaus gut für den Tourismus“, sagt der Berliner Club-Experte Leichsenring.
Chancen für neue Projekte
Und auch sonst könnte Neues auf uns zukommen. „Dann stellt sich die Frage, wie sich die Immobilienbranche verändert.“ Der Versandhandel werde weiter hoch im Kurs stehen, Geschäfte in den Innenstäten schließen. Wegen Home Office würden zukünftig womöglich weniger Büroflächen vermietet. „Es gibt neue Chancen, um unsere Innenstädte mit neuen Kultureinrichtungen zu beleben.“ Aber das sei ein Blick in die Kristallkugel – und „es gibt da noch viele Fragezeichen“.
Noch offen ist, wie sich die Krise auf die Lokale auswirkt. Lange war von einem Clubsterben die Rede. Zumindest in Berlin musste wegen öffentlicher Subventionen und Unterstützungskampagnen bis jetzt noch keiner zumachen. Und auch sonst dürften zumindest die bekannten Namen weiterexistieren.
Auf Ibiza soll es in den Mega-Discos im Sommer laut Plänen des Freizeitverbandes Ocio de Ibiza mit Impfpass, negativen PCR-Tests und beschränkter Kapazität wieder weitergehen. Das Amnesia hat etwa schon eine Saison-Abschluss-Fete für 23. Oktober angesetzt.
Auf dem benachbarten Mallorca ist man da eher vorsichtig. Das Nachtleben komme wahrscheinlich nicht mehr in diesem Sommer zurück, meinte etwa die Regierungschefin der Insel, Fancina Armengol, zu deutschen Medien. Generell sei die Pandemie auch eine Chance für Mallorca, den Exzesstourismus hinter sich zu lassen.
Teure Gagen
Wo es noch weitergeht, da sollten sich laut Leichsenring nach der Pandemie auf jeden Fall die Gagen der namhaften DJs und Live-Acts ändern. Die sind bei großen Namen seit einigen Jahren in astronomische Höhen geklettert. Die Prominenz der Techno-Welt soll mehrere Millionen Euro pro Jahr verdient haben (gar nicht zu reden von den EDM-Superstars, da wird es mehrstellig). „Ein Umdenken wäre gut. Lokale Künstler sind vielerorts schlechter gestellt.“
Vielleicht in der Zukunft nicht nur zu den Promis pilgern, auch den Leuten aus der Umgebung eine Chance geben. „Wenn es etwa in Brasilien ein Festival gibt, auf dem keine brasilianischen Künstler spielen, dann ist das schon bedenklich“, meint Leichsenring.
Offen sei, wie es kurz- und mittelfristig mit illegalen Raves weitergehe. Ob es die weiterhin verstärkt gebe, hänge laut dem Sprecher der Berliner Clubcommission vor allem davon ab, ob die Politik legale Alternativen mit realistischen und verantwortungsvollen Corona-Maßnahmen genehmige. „Etwas nicht stattfinden zu lassen, geht nicht. Selbst in den repressivsten Diktaturen der Welt wird gefeiert. Die Menschen finden immer Mittel und Wege.“
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