Von Österreichs Wäldern bis in den tiefsten Dschungel
Diesen Sommer hat in Laax in der Schweiz der längste Baumwipfelpfad der Welt eröffnet. Nur einer von vielen. In den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren sind Wege entlang von Baumkronen wie Schwammerln aus dem Boden geschossen. Lernstationen und Führungen sollen die Natur näher bringen, Kinder und ihre Familien für Bäume und ihre Bewohner begeistern. So wird einem beim Spaziergang auf Augenhöhe mit Vogel und Eichhörnchen hoffentlich bewusst, welche Bedeutung der Artenreichtum eines Waldes für das Ökosystem hat.
Ein Blick in die Arbeit von Naturforschern macht deutlich, was sich in den oberen Etagen von Bäumen tut. Nalini Nadkarni etwa kletterte bereits als Mädchen auf Bäume. Später widmete die Baumkronenforscherin ihr Leben dem „geheimnisvollsten Teil des Waldes“, wie sie es nennt. Die Wissenschaft hat großes Interesse daran, was der Wald direkt unter dem Blätterdach zu bieten hat und wie es das Ökosystem beeinflusst. Hier gibt es noch immer einiges zu forschen. Geheimnisvoller Lebensraum Erst in den Siebzigern wurde Forschern klar, dass in den Wipfeln der Bäume keine Ruhe herrscht, sondern das große Krabbeln. Vor allem im Dachgeschoß tropischer Wälder wurden in den vergangenen Jahrzehnten weit mehr Insektenarten neu entdeckt als am Boden – mehr noch – als in jedem anderen Lebensraum der Erde.
Die Welt in den Wipfeln ist voller Rätsel. Lianen und Luftwurzeln, die in den oberen Etagen wachsen, Blüten, Ameisen oder Faultiere, die sich dort dem Lebensraum anpassen. Die amerikanische Wissenschaftlerin Nadkarni will, dass die Menschen verstehen: Der Reichtum an Pflanzen und Tieren in den Wipfeln fördert die Artenvielfalt, die essenziell für ein funktionierendes Ökosystem ist – und für die Erhaltung unseres Lebens. Damit das Wissen rund um Bäume möglichst vielen Menschen zugänglich wird, hält sie Vorträge, betreibt einen Blog und hat 2019 eine „Baumkronenforscherin“-Barbie gemeinsam mit Mattel und National Geographic kreiert. Das wollte sie schon lange, um Aufmerksamkeit für eine wichtige Sache zu erhalten. Die will wissen, was sie von touristischen Baumwipfelpfaden hält und ob sie diese auch selbst besuchen würde. „Jawohl!“, antwortet Nadkarni, das würde sie. „Es ist eine Möglichkeit, Bäume und Wälder aus einer neuen Perspektive zu sehen und die Komplexität und Verbundenheit von Waldorganismen mit ihrer Umwelt zu verstehen.“
Um auf Bäume zu gelangen, bediente sich die Forschung einst so genannter „Canopy Walks“. Wackelige Hängebrücken, Seile, Leitern. Es waren die Vorreiter heutiger Baumwipfelpfade. Längst setzt die Wissenschaft auf spezielle Kräne, die fast unbemerkt von der Natur die Arbeit unterstützen.
Wald mit Aussicht So kommod wie heute konnte man den Baumkronen also noch nie nahe kommen, weder Forscher noch Spaziergänger oder Wanderer. Mit dem Wald in Berührung zu kommen, ihn aus neuen Perspektiven zu erleben, liegt im Trend. Neue Baumwipfelpfade wurden heuer neben der Schweiz auch in Usedom eröffnet. Letzterer von der Erlebnis Akademie AG (eak), die sich selbst als führender Anbieter für außergewöhnliche, imposante Baumwipfelpfade bezeichnet. Die eak allein hat bis heute europaweit elf dieser Pfade gebaut. Den ersten eröffnete man 2009 im Bayerischen Wald – mit einer Steglänge von 1.300 Metern war er damals der weltweit längste Wipfelpfad. Auf 25 Metern Höhe geht es entlang des Mischwalds, jeder kann den Weg schaffen, denn es gibt einen Aufzug, auch der Kinderwagen hat Platz. Dabei ist der Pfad längst nicht alles. Highlight ist ein Turm mit 44 Meter Höhe – auf diesem steht man weit über den Wipfeln. Pendants dazu gibt es etwa auf Rügen und im Salzkammergut. Herausragend immer der Turm, der sich an die Landschaft angepasst spiralförmig in den Himmel dreht.
Der Baumkronenweg im Innviertel in Kopfing, der erste Wipfelpfad Österreichs, wirkt dagegen ursprünglich. Seit 2005 kommen Besucher aus aller Welt, um auf bis zu 15 Metern Höhe über dem Waldboden zu spazieren. Zimmer gibt es auch – genächtigt wird im Baumhaus.
Mitten im Dschungel befindet man sich auf dem „Treetop Canopy Walkway“ in Danum Valley, Malaysien. Alle Sinne sind gefragt: die dampfende Luft, der schwere modrige Geruch, das Vogelgezwitscher, das Zirpen der Zikaden, das Knacken von Ästen und das Rascheln der Blätter. War das etwa eine Schlange? Und lauert da nicht etwas Schwarzes hinter dem Baum?
Wie eine Schlange schiebt sich der „Centenary Tree Canopy Walkway“ im südafrikanischen Kirstenbosch auf zwölf Metern Höhe über ein Naturreservat, das vor mehr als 100 Jahren angelegt wurde und zum Weltkulturerbe gehört. Passenderweise wurde die Konstruktion „Boomslang“ (eine afrikanische Schlangenart) genannt. Sie ist nur 130 Meter lang. Doch die Sicht auf die Natur ist spektakulär wie in einer Anderswelt.
Wie aus einer anderen Welt wirken auch die Supertrees in Singapur. Sie bieten kein Dschungelerlebnis, bringen aber Grün in die Stadt. Wie Wächter stehen die Superbäume im botanischen Garten, in dem seltene Pflanzen gezüchtet werden.
Die begrünten Giganten aus Stahl fangen den Regen für die Bewässerung auf, mit Photovoltaik wird Elektrizität sowie Licht und Kühlung gewonnen. Der Baumwipfelpfad ist hier ein futuristischer Skywalk mit Blick auf Wolkenkratzer und üppig grünem Park.
Kein Vergleich zu Wiens Naturerlebnispfad auf Stelzen. Er befindet sich im Tiergarten Schönbrunn, ist gerade mal 170 Meter lang und zehn Meter hoch, aber man hat ein kleines Dschungelerlebnis im Dachgeschoß der Bäume. Mit entferntem Gebrüll, Geschnatter oder Getröte aus dem Zoo und einer kleinen geheimnisvollen Welt, die einiges über den Wald, seine Bewohner und andere heimische Tiere lehrt. Eine spannende Welt in den Wipfeln – übrigens mit Aussicht über Wien.
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