Spätzünder: Vom späten Wechsel der sexuellen Orientierung

Spätzünder: Vom späten Wechsel der sexuellen Orientierung
Plötzlich – diese Sehnsucht, sie küssen zu müssen, intim mit dieser Frau zu werden, sie zu spüren. Alles kein Thema – würden diese Gedanken zu einem Mann gehören. Aber was, wenn eine Frau in der Mitte des Lebens ihre sexuelle Orientierung wechselt?

Bitte, was wissen wir schon – womöglich für immer und ewig? Speziell, was die sexuelle Gesinnung betrifft. Muss diesbezüglich alles immer so sein, wie es mal war? Geht alles seine vorgezeichneten Wege und ist die Abweichung davon absolut unvorstellbar? Aber nein! Vieles im Leben ist veränderbar, Gott sei Dank. Und das gilt insbesondere für das so genannte „heterosexuelle Selbstbild“. Jahrelang wähnt man sich als weitgehender Durchschnitt, mit klaren sexuellen Präferenzen, um irgendwann draufzukommen: Oha! Da rührt sich etwas Neues in mir, das bisher nicht da war. Dieses Etwas macht vielleicht Angst, weil es möglicherweise jenseits der Idee „Manderl will Weiberl, Weiberl buhlt um Manderl“ liegt. Auf einmal fehlt diese Eindeutigkeit, etwas in uns nimmt ein größeres Spektrum wahr, sieht neue Verlockungen und Alternativen. Man sehnt sich vielleicht danach, noch einmal etwas zu probieren, zu experimentieren, Ungewohntes zu spüren. Als Frau den Körper einer Frau spüren – als Mann einen Mann begehren.

„Was zu begrüßen ist, weil wir damit toleranter und offener werden. Wer weiß, vielleicht steckt in jedem von uns ein Hauch Homosexualität?“

Warum ich das heute thematisiere? Aus zweierlei Gründen. Erstens bekam ich ein Mail von einer Leserin, die mir ausführlich von ihrem Urlaub auf einer griechischen Insel erzählte. Was sie dort mit ihrer Freundin erlebte, als beide den Strand entlang gingen, während die dazugehörigen Männer ein Mittagsflascherl in der Taverne leerten. Sie schlenderten also dahin – und sagten lange nix. Fühlten sich gut – und so frei. Auf einmal, dieser Moment: Sie sahen einander an, spürten Wind, Meer, die Sonne und den Sand zwischen den Zehen, und ließen sich nieder, um einander zu umarmen – und unvermittelt zu küssen. Neu und gierig, neugierig. Keine der beiden wusste, wieso … Und ja, die Leserin ist offenbar noch heute verwirrt – fragt mich, was das bedeuten könnte. Am Ende blieb es bei diesem kurzen, aber unvergesslichen Moment. Gesprochen wurde darüber nie, aber sie denkt daran. Fast jeden Tag. Im Grunde will sie mehr, weitermachen, es zu Ende führen. Spüren, wie sich Intimität mit dieser Frau anfühlt. Das passt gut zu Grund Nummer zwei – einer Studie, die die Idee 100-prozentiger Hetero- oder eben 100-prozentiger Homosexualität und damit verbundenem Schwarz-Weiß-Denken in Frage stellt. Im Rahmen einer Untersuchung zeigte sich, dass sich die sexuelle Orientierung im Laufe des Lebens verändern kann. Dass also die Grenzen zwischen Hetero- und Homosexualität fließend sein können. Das ist unter anderem abhängig davon, was man erlebt oder wie man Dinge wahrnimmt. Tatsächlich sind gerade junge Menschen für diese Form fluider Sexualität offen, heißt es dazu in einem Artikel in Spektrum der Wissenschaft. Laut einer britischen Umfrage bezeichnet sich jeder zweite junge Erwachsene als nicht 100 Prozent heterosexuell. Was zu begrüßen ist, weil wir damit toleranter und offener werden. Wer weiß, vielleicht steckt in jedem von uns ein Hauch Homosexualität? Dafür ist es nie zu spät, eines Tages erwacht etwas. Dieses Phänomen heißt, recht blumig, „Late Bloomers“, und dazu wurden auch schon Bücher und Artikel verfasst. Ein schönes Beispiel ist Cynthia Nixon, die Amanda aus „Sex in the City“. Erst lebte sie jahrelang mit einem Mann und hatte zwei Söhne mit ihm, dann verliebte sie sich in eine Frau. Das späte Coming-out ist allerdings keine Kinderjause: Draufzukommen, dass man dem eigenen Geschlecht eher zugetan ist, kann das eigene Leben ganz schön durcheinanderbringen. Aber wann, wenn nicht jetzt, lohnt sich’s, neue Wege zu gehen, um endlich zu tun, was zu tun ist: Bei sich zu bleiben, und „ich“ zu sein.

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