Seilers Gehen: Von der Kunst des Abschweifens

Seilers Gehen: Von der Kunst des Abschweifens
Wohnbausiedlungen, Fußballkäfige und eine Trutzburg: ein Spaziergang in wenig vertraute Gefilde.

Es gibt Bücher, die zu Recht stolz darauf sind, eine Geschichte schnurgerade vom Anfang bis zum Ende zu erzählen – so bin ich zum Beispiel den großartigen Krimis der französischen Historikerin Dominique Manotti verfallen, die zackbumm Zusammenhänge zwischen französischer Politik, Wirtschaft, Skrupellosigkeit und Verbrechen darstellen.

Andere Bücher huldigen der Kunst der Abschweifung. Der Urmeter des kunstvollen Bloß–nicht-zur–Sache-Kommens ist für mich der Roman „Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman“ von Laurence Sterne, erstmals veröffentlicht zwischen 1759 und 1767 in neun Bänden. Um zu beschreiben, wie viel Zeit sich der Autor lässt, muss die Information reichen, dass der Ich-Erzähler erst in Band 3 zur Welt kommt.

Gerade lese ich wieder darin, und vielleicht hat mich diese ostentative Ziellosigkeit dazu bewogen, von meinem klassischen Spaziergang entlang des Donaukanals auf Höhe der Leipziger Straße abzubiegen und mich in wenig vertraute Gefilde der Brigittenau zu begeben. Ich ging durch Wohnbausiedlungen, denen eher die Notwendigkeit Menschen unterzubringen anzusehen ist, als die Begeisterung, das auch möglichst anspruchsvoll zu tun. Ich durchquerte Parks, wo im obligatorischen Fußballkäfig wilde Matches im Gange waren und auf den Bänken vor allem ältere Herren türkischer Herkunft Platz genommen hatten, die Tee aus Thermoskannen tranken und rauchten, als würden sie dafür bezahlt.

Tee und Kekse 

Wie fast überall in der Stadt bewunderte ich die Arbeit der Stadtgärtnerei, die mit Tulpen und Narzissen Tupfen der Fröhlichkeit wachsen lassen, dann nahm ich die Nordwestbahnstraße, ging entlang dem riesigen Stadtentwicklungsgebiet, das noch brachliegt, weiter in den Zwickel zwischen den Gleisarealen des ehemaligen Nordwest- und Nordbahnhofs, stand plötzlich vor dem Bezirksgericht Leopoldstadt und landete, als ich in die Trunnerstraße einbog, vor einem erstaunlichen, gedrungenen Komplex, einer Trutzburg mit dunkler, grober Fassade, die in einen idyllischen Garten überging, in den ich mich sofort hätte setzen wollen, um Tee und Kekse zu essen – so sieht er nämlich aus, dieser Garten: nach Tee und Keksen.

Die Trutzburg ist die evangelische „Verklärungskirche“, und sie bildet mit dem Spielplatz vor dem Kircheneingang und dem benachbarten, erstaunlicherweise viel freundlicher wirkenden Gebäude des Arbeitsinspektorats ein feines, gut gewirktes Ensemble, den Else-Feldmann-Park. Blühende Bäume, Bänke, Turngeräte, Blumenbeete, ein Nachbarschaftsgarten, ein Kontrapunkt zum üblichen Vroom-Vroom-Rhythmus der Innenstadt. Sogar eine Straße wurde für den 2020 gebauten Park unterbrochen, Platz für alle, gut so. Ich setze mich auf eine Bank, betrachte zuerst die Verklärungskirche. Dann drehe ich mich um und sehe die zwischen zwei Hochhäuser eingezwickte katholische Kirche, für die Arik Brauer verträumte Bilder beigesteuert hat, die jetzt die Fassade dominieren, bunt, verwirrend, eine erstaunliche Kollision von Kunst, Geschichte, Wirklichkeit.

Ich schweife ab. Ich gehe weiter.

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