Seilers Gehen: Nur jetzt, in dieser merkwürdigen Zeit

Seilers Gehen: Nur jetzt, in dieser merkwürdigen Zeit
Ein Schweinebauch, ein abendlicher Spaziergang und ein Wien wie Venedig.

Ich gehe durch die Wiener Innenstadt und bin sprachlos. Es spielt übrigens keine Rolle, ob ich sprachlos bin oder nicht, denn außer mir ist niemand da, mit dem ich sprechen könnte.

Es ist Samstagabend, zwischen zehn und elf, ein Lockdown-Samstag, und die Wiener Innenstadt ist leer, ich sage absichtlich nicht: wie ausgestorben. Allein ich nutze die Möglichkeit, aus Gründen der physischen und psychischen Erholung noch einen Spaziergang zu machen.

Ich bin bester Laune, denn ich hatte mir bei Alexander Mayer einen lackierten Schweinebauch mit Gnocchi geholt, eine dieser grandiosen, mit Finesse abgeschmeckten Mahlzeiten, die der Delikatessenhändler in der Jasomirgottgasse seinen Kunden im Glas mit nach Hause gibt. Habe die Mahlzeit nach den Anweisungen des Meisters für den Verzehr bereit gemacht (= aufgewärmt) und habe in einem schon etwas älteren Traminer aus der Thermenregion einen wohlmeinenden Begleiter gefunden.

Die köstliche Mahlzeit inspirierte mich dazu, noch einen abendlichen Spaziergang zu machen. Ich ging die Bäckerstraße stadteinwärts, erhaschte einen Blick auf den gerade entstehenden Campus der Akademie der Wissenschaften, blieb vor der frisch renovierten Jesuitenkirche stehen, die blass beleuchtet wurde und den ehemaligen Universitätsplatz vornehm prägt. Kein Auto. Kein Moped. Keine Gruppe junger Männer, die den angebrochenen Abend mit immer lauterer Stimme zu feiern weiß.

Dieses Licht, eine Leiter 

Am Figlmüller vorbei, niemand. Am Alt-Wien, geschlossen. Am Lugeck sah ich eine Gestalt in die Köllnerhofgasse einbiegen und dort verschwinden. Ich ging über den Hohen Markt, wo der elegante Merkur zum Billa Corso geworden ist, aha, betrachte Schaufenster und Fassaden, deren Lichtspiele gerade nur mir allein gewidmet sind, dann gehe ich zum Judenplatz und setze mich auf einen der Sessel, der vor „Ellas“ Gastwirtschaft stehen geblieben ist.

Ich erinnere mich an die Berichte von Freunden, die trotz Lockdown nach Venedig gereist sind und eine Stadt vorgefunden haben, die ihren Bewohnern gehörte, den wenigen, die noch immer in dieser vielleicht schönsten Kulisse der Welt leben.

Das musst du dir anschauen, haben sie gesagt, das gibt es nur jetzt zu sehen, in dieser merkwürdigen Zeit. Sie haben sicher recht. Aber jetzt gibt es auch Wien zu sehen, als Stadt, als Wohnraum, als lebendigen zweckfreien Ort, der ist, wie er ist: ein Traum. Ich bleibe eine Viertelstunde sitzen, schaue in den Himmel, Sterne, das Rauschen des Winds. Sonst nichts. Sonst niemand.

Dann, als ich später über den Graben Richtung Stephansplatz gehe, dieses Licht: Eine Leiter, hinauf zur Spitze des Südturms, in einer lauten Goldfarbe leuchtend. Ich erinnere mich jetzt, von diesem Kunstwerk Billi Thanners gehört zu haben, das vom Inneren des Kirchenschiffs durch das Dach zur Spitze des Turms hinaufstrebt, gehe auf den Dom zu, genieße die Magie des Augenblicks, und weiß, ich werde mich an die Kostbarkeit dieses Moments erinnern, wenn die Zeit wieder so sein wird, wie ich sie mir seit mehr als einem Jahr zurückwünsche.

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