Seilers Gehen: Wenn einen die Melancholie im Burggarten übermannt
Als ich von der Albertina-Seite in den Burggarten ging, alte, hohe Bäume, zwei Palmenhäuser, der prächtige Rücken der Neuen Burg, kamen mir zwei Männer entgegen. Sie waren vielleicht 35 oder 40 Jahre alt, sportlich und sommerlich angezogen, und wahrscheinlich wären sie mir gar nicht aufgefallen, wenn nicht der eine dem anderen gerade den Arm um die Schulter gelegt hätte. Erst dadurch bemerkte ich, dass der andere Mann weinte. In den Bruchteilen der Sekunden, während derer die beiden an mir vorbeigingen, blickte ich in ein Gesicht, in dem tiefe Verzweiflung zu sehen war.
Während ich weiterging, dem kitschigen Denkmal für Kaiser Franz Joseph entgegen, versuchte ich einzuordnen, was ich gesehen hatte. Waren die beiden Männer ein Paar gewesen, und der eine hatte dem anderen eröffnet, dass er ihn verlässt? Hatte der weinende Mann sonstwie Liebeskummer und sein Freund sprang ihm bei? Hatte eine dramatische Nachricht für die offensichtliche Bestürzung gesorgt, war der Mutter, dem Vater des Manns etwas zugestoßen, oder noch schlimmer, seinem Kind? Hatte er selbst eine Diagnose bekommen, die sein Leben auf den Kopf stellen würde? Eine Absage von der Schauspielschule? Die Kündigung wegen Strukturbereinigung?
Dem Handy beim Trösten zuhören
Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass mich die Tränen dieses Mannes rührten. Wir sehen täglich so viele Schattierungen von Lachen und Lächeln, dass wir darin geschult sind, an den Feinheiten des Mienenspiels zu erkennen, was hinter der freundlichen Fassade vorgeht, ob das Lächeln ehrlich, falsch, bemüht oder phrasenhaft ist. Es hilft ja, nebenbei bemerkt, auch einem selbst, mit einem Lächeln auf den Lippen durch den Tag, durch die Stadt zu gehen, weil – wie es Daniel Kahnemann in seinem Bestseller „Schnelles Denken. Langsames Denken“ beschreibt – allein die hochgezogenen Mundwinkel uns darauf programmieren, die Umwelt positiver wahrzunehmen.
Mit der Traurigkeit und der Verzweiflung ist das anders. Sie verstecken wir, nehmen sie hinter geschlossene Türen mit, teilen sie vielleicht mit den Liebsten, wenn überhaupt. Die Gefühle müssen überaus groß und mächtig sein, damit wir uns in der Öffentlichkeit davon übermannen lassen wie gerade, und so ging ich weiter, auf einen melancholischen Ton gestimmt, durch den Burggarten, vor zum Mozartdenkmal, das hinter einem schrecklichen Blumenbeet in Form eines Violinschlüssels stehen muss, betrachtete den bubenhaften, idealisierten Mozart, wie er vom Bildhauer Viktor Tilgner Ende des 19. Jahrhunderts geschaffen worden war, ursprünglich übrigens für den Albertinaplatz, erst 1953 übersiedelte die Statue in den Burggarten, und suchte in der Mediathek meines Handys nach dem Allegro aus Mozarts Klaviersonate Nr.13, KV 333, wie immer befreit gespielt vom genialen Friedrich Gulda und so vital und emphatisch, dass ich mir nicht weiter blöd vorkam, als ich mich hinter dem Denkmal in den Schatten setzte und meinem Handy beim Trösten zuhörte.
Dem weinenden Mann, der mich berührt hat, wünsche ich nur das Beste. Ich schicke ihm Mozarts Allegro als Postkarte.
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