Seilers Gehen: Eine Semmering-Tour ohne Bergschuhe

Seilers Gehen: Eine Semmering-Tour ohne Bergschuhe
Rein farblich passt "smaragd" auch heute noch gut, auch wenn der "Smaragd von Wien" der Vergangenheit angehört.

Wenn ich sage, dass ich über den Semmering gehe, dann ist das natürlich missverständlich, denn über den Semmering zu gehen bedeutet, eine Bergtour zu machen. Mache ich nicht. Stattdessen bewege ich mich langsam durch den Prachtteil der Gemeinde Semmering, von Grandhotel zu Grandhotel, wo in der Blütezeit des „Smaragds von Wien“ – die Zuschreibung entstammt der Euphorie eines Werbetexters – die bessere Gesellschaft Österreich-Ungarns tändelnd und schwarwenzelnd ihre Sommerfrische verbrachte und den Mythos begründete, der den „Zauberberg“ – eine andere, aus Davos importierte Zuschreibung – geprägt hat.
 
Vom Bahnhof stapfe ich erst einmal zur Hochstraße hinauf und beziehe nach einer gemütlichen halben Stunde Position vor dem Grandhotel Panhans. Es ist geschlossen, der Eingang verbarrikadiert. Auf der linken Seite, jener mit der Originalfassade, sind ein paar Wohnungen untergebracht, aber rechts vom ehemaligen Sprudelbad beweist der Neubau aus den Achtzigerjahren, dass die Architektur dieser Zeit zu Recht verschrien ist. Eine Tourismusschule ist in dem Neubau untergebracht, eine Volksschule (geschlossen), ein Kindergarten (in Betrieb). Ich statte der neogotischen Kirche zur Heiligen Familie einen Besuch ab und bin erstaunt, dass auch die strengen Formen nicht vor einem gewissen Kitschanteil schützen. Gegenüber stehen in einem ehemaligen Geschäft zwei Flipper und warten darauf, eingeschaltet zu werden. Eine Harley Davidson rollt vorbei, blubbernd und von einem Piloten mit dem vorgeschriebenen Übergewicht gelenkt. Der Semmering ist eine versunkene Schönheit. Aber es gibt Bestrebungen, ihn mit Leben zu füllen, die Eleganz vergangener Tage zurückzuholen. Es gibt Kulturveranstaltungen, Symposien, Planungsrunden, ein neues Buch von Wolfgang Kos, Kunstinstallationen an klandestinen Stellen, und ich drücke die Daumen, dass die Übung gelingen möge. Ich gehe am Silbererschlössl vorbei, am Panoramahotel Wagner – wer viel Zeit hat, soll dort den Chef nach kreativen Ideen für den Semmering fragen –, zum Südbahnhotel Viewpoint, wo sich mit dem Blick über die Türme und Dächer dieses grandiosen, verspielten Bauwerks eine gewisse Zeitlosigkeit materialisiert, zehn Jahre auf oder ab scheinen plötzlich völlig unbedeutend.

Ich umrunde das Südbahnhotel. Leider sind alle Türen verschlossen. Aber durch die großen Fenster des ebenerdigen Saals höre ich, wie jemand Klavier übt, eine lebendige Melodie. Später gehe ich den Villenweg hinunter. Hier stehen ein paar der schönsten und berühmtesten Privathäuser, die der Semmering zu bieten hat. Die Villa Schönthaler, die unter anderen dem Volksschauspieler Maxi Böhm gehörte, konnte ich bei einer Veranstaltung des „Einfach Leben Forum“ bewundern, andere historische Häuser scheinen auf ihre neue Bestimmung zu warten. Die Südbahnstraße hinunter Richtung Bahnhof. An einem Haus hängt der Hinweis, dass sich hier nicht der 20-Schilling-Blick auf die Ghega-Bahn befinde, wie es manche Navigationsgeräte wohl melden: „Bitte kommen Sie nicht in meinen Garten.“ Nein, niemals. 
 

Semmering Bahnhof – Wanderweg Hochstraße – Hochstraße – Südbahnhotel – Adlitzgrabenstraße – Villenstraße – Südbahnstraße – Bahnhof: 6.000 Schritte

christian.seiler@kurier.at

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