Wandern auf alten Wegen
Als ich vor etlichen Jahren im Marchtal auf der Suche nach seltenen Pflanzen war, fiel mir ein Schild mit der Aufschrift „Bernsteinstraße“ auf. Ich vergaß meine botanischen Ambitionen, packte die Lupe weg und folgte der angegebenen Richtung. Ich weiß noch, dass ich dachte: „Die gibt’s ja wirklich!“ Immerhin war die Bernsteinsteinstraße die wichtigste Handelsroute des Altertums, sie wurde schon 2.000 v. Chr. benutzt. Auf eben dieser Route stiegen jahrhundertelang Händler, Legionäre, Pilger und Ritter zur Donaumündung herab; sie kamen mir jetzt gewissermaßen entgegen. Hinter jedem Ackerrain, jedem Sand-Hügel, jedem Schupfen sah ich die Welt, wie sie einst war: Gewerbezentren verschwanden aus meinem Blickfeld und wurden durch Auwälder und überschwemmte Wiesen ersetzt. Wo sich noch vor wenigen Sekunden ein Fast-Food-Restaurant an das nächste gereiht hatte, befand sich nun ein Einkehrwirtshaus, vor dem ein paar Handkarren und Maulesel herumstanden. Was die Straße selbst anging, so verschwamm das Asphaltband vor meinen Augen und wurde zu einer zerfurchten, gewundenen Erdbahn, vier Meter breit und mit Ausweichstellen versehen, sodass zwei Fuhrwerke aneinander vorbeiholpern konnten.
Seit jenem Tag im Marchtal war ich kein Pflanzensammler mehr, sondern auf der Spur der vergessenen Wege, die meine Fantasie beflügelten, weil sie mir eine Landschaft zeigten, wie sie unsere Vorfahren kennengelernt haben. Mich trieb an, dass ich mehr erfahren wollte über die Menschen, die hier lange vor mir gegangen waren, über die Könige, die sich den Bierbauch kratzten vor den Augen der halb verhungerten Bauernkinder am Wegesrand, über die verlausten Pilger, die Viehkapitäne und die halbwilden Heiducken. Einmal im Bann dieser Idee, stieß ich auf meinen Wanderungen über Land immer wieder auf alte Mautstellen, auf römische Heerwege und Dichterstraßen, deren Ruhm lange verklungen war.
Diese Entdeckungsreisen unternahm ich zu Fuß, ich wanderte, stolperte, hastete, manchmal humpelte ich einem Hexenschuss zum Trotz weiter, denn nur so konnte ich spüren, wie schwer das Reisen in vorindustrieller Zeit war, wie es sich anfühlte, schutzlos zu sein, immer wachsam zu bleiben, darunter zu leiden, wie langsam es voranging – das Märchen von den Siebenmeilenstiefeln ist uraltes Wunschdenken.
Nibelungen bis Räubereien
Wegweiser im Gelände blieben bei meiner Spurensuche Glücksfälle. Auf der Suche nach einem der etwa sechzig verbliebenen Altwege, die in Niederösterreich noch bekannt sind, war das Stöbern in Archiven und in alten Texten unumgänglich. Ein paar Beispiele: Ohne Nibelungenlied und die darin genannten Orte gäbe es keine Nibelungenstraße; ohne literarische Venusfahrt Ulrich von Liechtensteins wüssten wir viel weniger über die Venediger Straße und hätten von der Nikolsburger Straße praktisch keine Kenntnis; ohne Gerichtsakten zu den Raubüberfällen und zu den Bauernaufständen auf dem pleckerten Weg wäre dessen Verlauf nur schwer nachzuzeichnen.
Es blieben Zweifel. Warum hat der Polansteig im Waldviertel in seinem Verlauf ausgerechnet die Burgstadt Zwettl ausgelassen? War die Ebenfurther Straße jemals mehr als ein morastiger Trampelpfad zwischen Leitha und Fischa? Stand wirklich ein Hospiz auf dem Mamauwiesen-Sattel? Verlief die alte Semmeringstraße nördlich oder südlich der Schwarza? Was würden die hartleibigen Eisenverleger und Salzschiffer von einst über unsere heutige Sehnsucht nach Entschleunigung denken?
Immer auf der Höhe
Diese Siedlungsfeindlichkeit hat einen Grund. Dörfer entstanden als Hofzeilen entlang von Bächen oder in Gräben. Diese Weiler waren stets hochwassergefährdet, ein Fortkommen unsicher. Daher findet man Altstraßen im östlichen Flach- und Hügelland oft auf Anhöhen. Hohlwege verbanden diese Fernwege mit Marktorten und Anlegestellen der Fährleute.
Das Wandern auf entlegenen Wegen hilft mir beim Wahrnehmen der Umgebung. Diese gezwungenermaßen gemächliche Art der Fortbewegung erlaubt mir, mich in eine Vergangenheit zurückzuschleichen, in der es noch möglich war, einen Gedanken zu fassen, ehe man eine Entscheidung traf, und sei es nur, ob man nach links oder rechts, geradeaus oder zurück wollte; so ganz anders als heute.
Mit Altwegen verhält es sich wie mit den alten Sorten im Garten. Man muss sie nutzen, um sie zu erhalten. Das Wissen um die Routen schwindet, da viele Wege nur mündlich überliefert wurden und in keinem Reiseführer aufscheinen. Auf dem Land dürfen wir generell nicht mit schriftlichen Aufzeichnungen rechnen, glücklicherweise gibt es aber die ab dem 18. Jahrhundert in kaiserlichen Landesaufnahmen und Katasterplänen festgelegten Straßenlinien und Flurnamen. Diese lassen Rückschlüsse auf die einstige Verwendung zu: Gegenden, die Spanlüss oder Abspannberg heißen, sind nach dem auf Passstraßen nötigen Vorspann benannt, Weinberge und Weinfurten nach der wichtigen Fracht, Wartberge und Rauchkogel sind Hinweise auf Wacht- und Signalposten, Hochwege und Hochstraßen erinnern daran, dass schon im Mittelalter einige Pfade als sehr alt angesehen wurden.
Je länger ein Weg ist, und die Altstraßen sind generell weite Wege, desto wertvoller sind die Begegnungen mit Menschen im Streckenverlauf für mich, etwa mit der Heimatforscherin Margarete Platt, die über die lebendige Tradition des Marterlaufstellens berichtet; mit dem Bernhardsthaler Urgestein Friedel Stratjel, der die „Fuchsenröhren“ genannten Hohlwege als Teil des Marchweges deutet; genauso mit Peter Coreth, der sein Museum Humanum in Fratres an der alten Postlinie nach Böhmen gegründet hat; mit der Archäologin Karin Fischer-Ausserer, die mir die Eigenheiten des römischen Straßennetzes auseinandergesetzt hat; mit der Historikerin Sarah Pichlkastner, einer Spezialistin für Bürgerspitäler; und mit Ingeborg Berta Hofbauer, die mir einen guten Grund nannte, allein loszuziehen – es war einfach an der Zeit.
Info
Der Autor Martin Burger war KURIER-Redakteur im Ressort Leben. Seit 2015 ist er stellvertre- tender Chefredakteur einer medizinischen Fachzeitschrift
Das Buch „Gehen auf alten Wegen. Auf den Spuren der Römer, Pilger und Händler durch Nieder- österreich“ erscheint morgen im Styria Verlag. 192 S., 28 €
Erstpräsentation Burger präsentiert das Buch am 14. Juli ab 19 Uhr bei Thalia Wien-Mitte/W3 bei freiem Eintritt
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