Prunk & Punk: St. Petersburg ist das neue Berlin
Es ist halb neun Uhr morgens. Aus den Clubhöllen auf der mit vielen Graffiti verzierten Dumskaya Straße schälen sich blasse, junge Menschen, meist in Schwarz gekleidet, um sich den ersten Espresso und einen „Blintschiki“ zu holen. Sie wirken erschöpft, denn im „Belgrad“ oder dem „Mosaique“ wird auf den Tischen getanzt – bis der Morgen in den Vormittag gleitet. Wer es schick will, ist hier schlecht bedient. Alles sehr rau, „Berlin style“, erklärt ein Nachtschwärmer: „Hier bei uns in Petersburg geht es nicht so mondän zu wie in Moskau. Dafür ist alles wesentlich cooler.“ Und erfinderischer.
Indiz für diese These ist der auch sonst äußerst skurrile Club „Purga“, wo täglich um Mitternacht Silvester gefeiert wird. In Petersburg herrscht vorrangig die Parole „Offen ist, bis der letzte Gast geht.“ Wer vergleichen möchte, Züge vom Typ „Sapsan“ (Wanderfalke) donnern mittlerweile in nur vier Stunden zwischen den Metropolen. Achtung: Seit Oktober kann man ein kostenloses achttägigiges E-Visum für Petersburg lösen, das jedoch nicht für Moskau gilt.
Unweit der Partymeile kann man das Markttreiben am Sennaya Rynok beobachten. Hier stehen sie tatsächlich noch, die knorrigen Bauersfrauen mit den roten Nasen und den Kopftüchern, die eingelegte Gurken, Honig und getrocknete Fische feil bieten, wie frisch aus einem Dostojewski-Roman entsprungen. Eine lässt mich acht verschiedene Honigsorten kosten und ist überhaupt nicht böse, als ich ihr keinen abnehme.
Prunk & Machtgeklotze
Viele junge Menschen mit Nerd-Brillen und in Sneakers tummeln sich in den unzähligen Lokalen auf der Newski-Prospekt, der fünf Kilometer langen „Schlagader“ der Stadt. Auch hier spürt man die bombastische Pracht vergangener Tage, in denen nur der Sonnenkönig von Versailles dem zaristischen Russland mit seinem Sinn für Prunk und Machtgeklotze gewachsen war. Der Louvre ist auch das einzige Museum der Welt, das mit der Eremitage mithalten kann. Ungeachtet der sich durch die Prunkräume wälzenden Touristenmassen, die von verzweifelten Guides mit hoch erhobenen Schirmen in Schach gehalten werden, raubt einem vor allem der Winterpalast (insgesamt 350 Säle mit 65.000 Kunstwerken) mit seiner Pracht den Atem.
Teezeremonie
Zur Erholung nach dem Kunstmarathon sei die Teezeremonie im Hotel Astoria empfohlen, wo der Patissier Fieberträume von Desserts ersonnen hat. Hier steht die Zeit still und man kann sich genau vorstellen, nach welchen Ritualen Tolstois Anna Karenina und ihr Wronski aus dem imperialen blauen Porzellan ihren Tee genippt haben müssen. Das Astoria hat auch eine historisch bedingt schaurige Note: Hier wollte Adolf Hitler 1941 seine Siegesfeier ausrichten und hatte schon entsprechende Einladungskarten drucken lassen.
Abramowitschs hippes Inselreich
Der angesagteste Treffpunkt für junge Petersburger ist „New Holland Island“, eine von jenen 43 Inseln, aus denen die Stadt besteht. Den 600 Brücken, die die Inseln verbinden, und 68 Kanälen und Flussarmen hat sie das Etikett „Venedig des Nordens“ zu verdanken. Tatsächlich ist man nach einer Bootsfahrt wie erschlagen von der Opulenz und Weitläufigkeit dieser Stadt. „New Holland Island“ ist vom Zentrum gut zu Fuß zu erreichen.
„You are on an island“ leuchtet in blauem Neon eine Kunstinstallation auf dem Dach eines Gebäudes auf der Insel, die der Oligarch Roman Abramowitsch (geschätztes Vermögen 9,2 Milliarden Euro) gemeinsam mit seiner damaligen Ehefrau Darja Schukowa aus einem verlassenen Werft- und Marinegefängnisgelände hoch stemmte. Tatsächlich ist Abramowitsch auch immer wieder auf seiner Insel zu sehen.
In Jeans und im T-Shirt mit der Möwe, dem Logo von „New Holland“ (der Name rührt von den holländischen Gastarbeitern, die zu Zarenzeiten in der Werft werkten), mischte er sich bei der Eröffnung des Filmfestivals im vergangenen Sommer im Park unter die Zuschauer; seine Leibwächter stehen auffällig unauffällig in nächster Nähe. „Roman“, wie ihn die „New Holland“-Mitarbeiter liebevoll nennen, sei ein extrem zugänglicher und unkomplizierter Mensch, aber er mag es nicht, fotografiert und schon gar nicht befragt zu werden.
Später steht „Roman“ an der Bar des „Kuznya House“, dem früheren Badehaus, wo Petersburger Varianten der Kardashians Partygas geben. Dort kann man auch russische Küche neu interpretiert genießen. Das Essen ist fantastisch, das Ambiente bling-bling. Ähnlich dekadent modern geht es ansonsten noch im „Cococo!“ im Sofitel zu, wo Traditionalismus auf die Spitze getrieben wird.
Das Eröffnungsgericht ist ein Fabergé-Ei-Imitat mit Kaviar; neben dem berühmten Schokodessert, das wie ein zerschlagener Blumentopf aussieht, eine Trademark des spaßbegabten Kochs Igor Grishechkin. Das Lieblingsrestaurant von Manolo Blahnik mit seiner prominenten Besitzerin Matilda Schnurow (Ex-Frau eines in Russland berühmten Punkstars) ist in seinen Ansprüchen die Petersburger Variante zum Wiener „Steirereck“.
Wodkaschule: Niet Na sdorowje
Neben dem Park, in dem im Sommer gepicknickt und entspannt wird, hat „New Holland“ (neben vielen schrägen Läden und Restaurants) auch im Winter einiges zu bieten: der riesige Teich wird zu einem Eislaufplatz umfunktioniert und ein „Neujahrsmarkt“ lockt Touristen wie Einheimische, ebenso wie der im Hof errichtete prachtvolle „Neujahrsbaum“. Die Diktion stammt noch aus dem Revolutionsvokabular, denn 1917 wurde der Begriff Weihnachten aus dem Sprachgebrauch verbannt. Dass Parks überhaupt als Lebensraum benutzt werden, ist für die russische Bevölkerung ein Novum. „Früher galten unsere Parks als gefährlich“, erzählt Pavel, ein New-Holland-Guide, „dort wurde nur gesoffen und die Obdachlosen lungerten herum. Dass Parks zum Vergnügen da sind, ist neu in unserem Alltag.“
... eine Schlafmaske (sollte meine Reise in die Zeit der Weißen Nächte fallen – von Ende Mai bis Mitte Juli) und „Anna Karenina“ von Lew Tolstoj (Hanser-Verlag) als Stimmungsmacher.
... einen schicken Knirps. Plötzliche Regenfälle gehören in Petersburg zum Alltag.
... Das iPad. Damit können Sie einen digitalen Rundgang durch die Eremitage machen und sich die „Gustosäle“ im Vorhinein aussuchen. In jedem Fall die Tickets im Voraus online buchen.
„Frisch wie ein Gürkchen“
Wenn die Newa dick zugefroren ist, hacken vor der berühmten Peter-und-Paul-Festung mutige Masochisten Löcher in das Eis; die sogenannten „Walrösser“ werden zu einer zusätzlichen Touristenattraktion. Im Gegensatz zu den „Weißen Nächten“ im Sommer, ist St. Petersburg mit Tiefsttemperaturen Minus 20 Grad in der kalten Jahreszeit weit weniger überlaufen. "Frisch wie ein Gürkchen“ soll man sich, so ein Sprichwort, nicht nur nach dem Eisbad, sondern auch nach dem Wodka-Genuss fühlen.
Eine Ausbildungsstätte für zivilisiertes Wodkatrinken bietet der „Vodka Room“ im „Bottle Haus“, dem ehemaligen Militärgefängnis auf New Holland. Oberste Regel: Wodka wird nur in Begleitung von Essbarem konsumiert – hier werden zu den nach Rezepten aus dem 18. Jahrhundert gebrauten „Psychoanalytikern“ Roggenbrötchen, belegt mit geräucherten Fischen oder Gänseleber serviert. Die Qualität des Wodkas sei am Geruch zu erkennen, der „von medizinischer Klarheit sein sollte“, so die Chefin des Hauses.
Und der Trinkspruch „Na sdorowje“ (auf die Gesundheit) ist, so lernt man, völlig daneben. Kein Russe im Besitze seines klaren Verstands benutze ihn. Bestes Katermittel übrigens, um einen Wodka-Hangover zu bekämpfen, eine Krautsuppe mit geräucherten Schweinerippchen. Zivilisierte Petersburger haben die Zaubersuppe mehrfach portioniert in ihren Gefrierschränken. Das Rezept kommt ins seelische Handgepäck.
Wussten Sie, dass ...
... im Sommer die Brücken über der Neva nachts für die hereinfahrenden Schiffe geöffnet werden und somit nicht mehr für Autos und Fußgänger passierbar sind? Plan: radzvodka.mostov.ru
... kein Mensch „Nastrovje!“ sagt. Einheimische Gastronomen nennen das „ein grobes kulturelles Missverständnis.“ Wodka wird in Russland nur in Begleitung von Essbarem getrunken.
... die Werke Freuds, des Begründers der Psychoanalyse, erstmals in Russland übersetzt wurden. Deshalb gibt es (abgesehen von London und Wien) auch dort ein Freud Museum.
Sankt Petersburg Tipps
Donnerstag
Eine Bootsfahrt
Die Anlegestellen sind an den Brücken des Newski. Empfehlenswerte Info:
www.neptun-boat.ru
Hamlet & Jacks
Experimentierfreudige russische Küche.
www.hamletandjacks.ru
Fabergé Museum
Ja, genau, hier gibt es die teuersten Eier der Welt.
www.fabergemuseum.ru
Tee im Hotel
Ins Hotel Astoria: Die stilvollste Teezeremonie mit Fieberträumen von Patisserie.
www.roccofortehotels.com
Freitag
Kusnetschny Rynok
Markt: Morbider Ostcharme ab neun Uhr morgens.
Kusnetschny Pereulok 3
Dostojewski Museum
Hier lebte der tragische Schriftsteller, Originalmobilar.
www.md.spb.ru
New Holland Island
Die hippste Location in Petersburg. Park, Gallerien, Shops, Bars & Restaurants.
www.newhollandsp.ru
Vodka Room
Hier gibt es Wodka in allen Varianten zu Fischbrötchen. New Holland Island, The Bottle House.
bottlehouse.ru
Samstag
Newski-Prospekt
Bummeln auf dem fünf Kilometerlangen Prachtboulevard. Luxusläden, Cafés, Galerien.
Stolle
Der Piroggen-Himmel, mit den verschiedensten Füllungen.
www.stolle.ru
Eremitage
Zeit nehmen für die Mutter aller Prunkmuseen. Tickets online vorbestellen, sonst heißt’s warten!
wwww.eremitage.ru
Cococo
Das trendigste Restaurant der Stadt. Russische Tradition zu dekadenter Nouvelle Cuisine hochgejazzt.
www.kokoko.spb.ru
Sonntag
Peter-Paul-Festung
Letzte Ruhestätte der Romanows, Museumsensemble, Kathedrale.
www.spbmuseum.ru
Smolnij-Kathedrale
Das Meisterwerk des Barockarchitekten Bartolomeo Rastrelli.
www.petersburg-info.de
Museum über Russland
Politische Geschichte in einer Jugendstilvilla. Seltene Ton-und Filmdokumente.
http://www.polithistory.ru
Dzamiko
Georgische Küche, Bio- und regiona. New Holland Island. Schwere Weine, deftiges Essen
wwww.dzamiko.ru
Hoteltipps
Hotel Astoria
Sozusagen das „Sacher“ von Petersburg, hier residierten Isidore Duncan & Co.
www.roccofortehotels.com
Angleterre
Astorias kleine, etwas weniger luxuriöse Schwester, die auch günstiger ist.
www.hotelangleterre.ru
Club Chao Mama
Cool gestyltes Apartmenthotel im Herzen der Stadt.
www.club-chao-mama-hostelshotelsinsaintpetersburg.ru
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