Wer nicht selbst dabei ist, wird in den sozialen Medien mit halb erstaunten, halb empörten Fotos von Menschenschlangen konfrontiert, von denen manche – Stichwort: Skilifte – sogar zum Politikum wurden. Auch oft geknipst: die vielen Wartenden vor der Filiale eines Luxus-Handtaschen-Herstellers und einem Burgerlokal in der Wiener Innenstadt. Zwei Stunden harrten Hungrige trotz Kälte aus, um Burger und Pommes mit nach Hause zu nehmen. Stets gesittet und rücksichtsvoll, wie es aus dem Lokal heißt.
Hat uns die Pandemie geduldiger gemacht?
„Die Motivation zum geduldigen Warten ist immer auch abhängig davon, wie ich das Ziel am Ende der Warteschlange bewerte. Auf etwas Positives wartet man länger“, erklärt die Sozialpsychologin Vicky König von der Universität Salzburg.
Es gebe aber noch andere psychologische Phänomene, die Menschen zum langen Anstellen animieren. „Manchmal warten Personen einfach weiter, weil sie bereits viel Zeit und Energie investiert haben und dieses Investment schwerer wiegt als die mögliche Enttäuschung am Ende der Schlange.“Das Prinzip der emotionalen Kosten-Nutzen-Rechnung ließe sich auch auf das neue Warten vor Geschäften ummünzen – noch vor einem Jahr wäre es für die meisten wohl undenkbar gewesen, vor einem Textildiskonter eine halbe Stunde lang anzustehen. „Jetzt wartet man auf ein Kauferlebnis, statt dass man einen weiteren Tag zu Hause verbringt. Für viele ist das eine positive, erfreuliche Abwechslung.“
Ob, wie sehr und warum Menschen in Warteschlangen leiden, beschäftigt Psychologen seit vielen Jahrzehnten. Entscheidend ist ein Mix aus persönlicher Wahrnehmung und Erwartungshaltung, wie der Harvard-Professor David Maister Mitte der 1980er-Jahre in seinem Aufsatz „The Psychology of Waiting Lines“ beschrieb: Unter anderem fühlt sich Wartezeit, in der man sich beschäftigt, kürzer an; Angst, etwas zu verpassen, lässt die Zeit noch langsamer vergehen.
Ausschlaggebend ist, dass sich alle fair und gleich behandelt fühlen, fand US-Psychologe Richard Larson, wegen seiner intensiven Forschung zum Thema „Dr. Queue“ (to queue, sich anstellen) genannt, heraus. Deshalb bringen sich ungleich bewegende Schlangen vor der Kassa so viele zur Weißglut.
Obwohl man in der Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen lernt, seine Impulse zu kontrollieren, hängt es von der eigenen Lust und Energie ab, ob man diese Selbstkontrolle auch einsetzt, sagt König. „Es ist immer ein Zusammenspiel aus Person und Situation. Bin ich hungriger, werde ich ungeduldiger – ein Klassiker.“
Das ständige Pochen auf Abstandhalten und Rücksichtnehmen im vergangenen Corona-Jahr macht sich nun auch im Warteschlangen-Verhalten bezahlt: Endlich spürt man keinen fremden Atem mehr im Nacken, wer einem zu nahe kommt, muss mit tadelnden Blicken rechnen.
Für eine individualisierte Gesellschaft bleibt das Einreihen in Schlangen eine Herausforderung, die auch bei der aktuellen Impf-Debatte mitsamt Vordränglern sichtbar wird. Hier zeigt sich, dass Warteschlangen ein Statussymbol sein können – weil sie suggerieren, dass am Ende etwas wartet, das alle haben wollen. Egal, ob es sich um den Einlass in einen hippen Club, das neueste iPhone, einen gehypten Burger – oder eben eine Impfung handelt. Eine Warteschlange, die unsere Geduld noch lange auf die Probe stellen wird.
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