Liessmann: "Empathisch ist jetzt, wenn ich um jeden einen Bogen mache"
Für einen kurzen Zeitraum, betont Liessmann, könnten wir unser Verhalten anpassen – denn wir wüssten: Es ist nicht von Dauer. Doch was, wenn es länger dauert? Im Interview erklärt einer der international renommiertesten Philosophen, wie die aktuellen Einschränkungen unsere Gesellschaft verändern, wieso wir sie dennoch akzeptieren (wo wir sie sonst doch vehement ablehnen würden) und welche ethische Antwort es auf die Frage des Isolierens von Risikogruppen gibt.
KURIER: Der Philosophie kommt in Krisenzeiten eine besondere Bedeutung zu, belegt auch die Literatur. Welche Ausprägung dieser Wissenschaft hilft uns jetzt?
Konrad Paul Liessmann: Es herrschen Unsicherheit, Ratlosigkeit, Angst, auch Verärgerung. Richtig ist, dass Menschen auf Fragen gestoßen werden: Was hat Wert? Wie bedeutend ist Gesundheit? Worauf können wir verzichten? Was ist Normalität? Ich glaube aber nicht, dass die Philosophie die beste Wissenschaft ist, um Trost zu spenden. Zukunftsforscher oder Sozialutopisten sind dafür besser geeignet, die versprechen jetzt gerne das Blaue vom Himmel. Mit der Philosophie können wir die Lage analysieren, aber für Slogans wie „In jeder Krise steckt eine Chance“ und „Nachher wird nichts so sein, wie es vorher war“, ist sie gänzlich ungeeignet. Sie weiß zu viel vom Menschen, als dass man große Versprechungen machen könnte.
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Slogans wie diese werden jedoch immer lauter, man könnte meinen, die Menschheit habe die Chancen zuvor nicht wahrgenommen.
Eines bewirken Krisen: Das, was vorhanden ist, tritt schärfer hervor. Potenziale, die in uns schlummerten, sind jetzt gefragt – im Positiven, aber leider auch im Negativen.
Inwiefern?
Zum einen bemerken wir: Es gibt eine Bedrohung, die wir gemeinsam zu bekämpfen haben, das führt zu neuen Formen der Solidarität. Zum anderen lässt ein Virus mit hohem Ansteckungsrisiko unser Verhalten fast paradox werden: Empathisch bin ich jetzt, wenn ich um jeden, dem ich begegne, einen großen Bogen mache. Wir müssen erst lernen, Signale, die wir vor der Krise als absolute Zeichen des Misstrauens und der Abneigung interpretiert haben, nun als Zeichen des Verständnisses und der Rücksichtnahme wahrzunehmen.
In der Geschichte haben sich Verhaltensänderungen über Generationen, teils Jahrhunderte, vollzogen. Wie soll uns das innerhalb weniger Monate oder Jahre gelingen?
Es stimmt, es kann längere Zeit brauchen. Andererseits kennen wir das Phänomen einer beschleunigten Welt, in der sich Einstellungen schnell wandeln. Wir denken etwa Sexualität heute grundlegend anders als noch unsere Eltern-Generationen. Außerdem waren Menschen immer schon imstande, zwischen Ausnahmezuständen und Normalsituationen zu unterscheiden. Für einen kurzen Zeitraum können wir also unser Verhalten anpassen, weil wir wissen: Es ist nicht von Dauer.
Ein „kurzer Zeitraum“ ist wie lange?
Denken wir etwa an die Frühzeit der Seefahrt, als eine Schiffsmannschaft monatelang dem Ozean ausgesetzt war, unter denkbar schlechten Bedingungen – sie hat es trotzdem ausgehalten.
Es hängt davon ab, welche Perspektiven uns eröffnet werden. Die Öffnung der Geschäfte entspannt die Lage, da werden andere Maßnahmen wie die Maskenpflicht oder das Abstandhalten in Kauf genommen. Selbst wenn sich das über Monate zieht, werden Menschen keine gravierenden psychischen Schäden davontragen.
Schulen sind im Gegensatz zum Handel aber noch geschlossen, was lernen wir daraus?
Hier plädiere ich für Ernüchterung. Schulen sind in der Regel in einem Jahr ohnehin drei Monate geschlossen – so lange dauern zusammengerechnet die Ferien. Wir haben gerade einmal ein paar Wochen Schulschließung hinter uns. Der Zustand an sich ist also nichts Außergewöhnliches.
Wohl aber das Homeschooling.
Das war bisher weniger dramatisch, weil auch Eltern oft von zu Hause arbeiten. Kritisch wird es, wenn alle wieder zu ihren Arbeitsplätzen fahren. Dann stellt sich die Betreuungsfrage, es wird zu ziemlichem Druck kommen, weil man weiß, dass Kinder ein soziales Netz brauchen und nicht sich selbst überlassen werden können, wie etwa Oberstufenschüler oder Studierende, die mit elektronischem Lernen gut umgehen. Die verschiedenen Expertenmeinungen machen die Entscheidung nicht einfach, doch ich rechne damit, dass in absehbarer Zeit Kindergärten, Grundschulen und Mittelstufen geöffnet werden.
Gegen die Corona-Pandemie werden ganze Staaten heruntergefahren, Schulen sind nur ein Teil davon. Erinnern wir uns aber an den Kampf gegen und die Diskussion rund um den Klimawandel: Maßnahmen wie die radikale Einschränkung des Flugverkehrs waren undenkbar. Warum akzeptieren wir es jetzt?
Aus zwei Gründen: Das Virus ist im Gegensatz zum Klimawandel eine unmittelbare Bedrohung. Wer erlebt hat, dass ein Familienmitglied angesteckt wurde und womöglich sterben wird, sieht das Ganze anders. Zum anderen sind Maßnahmen gegen den Klimawandel nur sinnvoll, wenn sie nachhaltig ausgerichtet sind. Bei den jetzigen Restriktionen ist klar: Die Flugzeuge sind derzeit am Boden, die Reisebüros schicken aber Angebote aus, den nächsten Urlaub zu buchen. Wir nehmen das also in Kauf, weil wir wissen: Es ist eine vorübergehende Maßnahme. Die Situation wäre ganz anders, hätte man uns verkündet, dass Reisen im bisherigen Ausmaß in den nächsten 30 Jahren nicht mehr stattfinden wird können. Das wäre aber nötig, wenn man den Klimawandel beeinflussen wollte.
Akzeptieren andere Kulturen Restriktionen auf gänzlich andere Art?
Selbstverständlich. Freiheit ist in hohem Ausmaß ein politischer Begriff und von historischen Erfahrungen geprägt. Wir legen großen Wert auf die Meinungsfreiheit, die in Österreich aus meiner Sicht in keiner Form gefährdet ist – in anderen Gesellschaften aber sehr wohl. Bestimmte autoritäre Gesellschaften haben das Virus sofort benützt, um mediale oder politische Freiheiten einzuschränken. In der Europäischen Union sind wir aber auch Bewegungsfreiheit gewöhnt, Reisen gehört zu unserem Lebensstil. Das ist jetzt radikal eingeschränkt. Für andere Kulturen war und ist das selten ein Thema. Der Großteil der heute lebenden Menschen verlässt selten bis nie den Geburtsort. Viel hängt auch davon ab, welche Grundrechte in den Verfassungen verankert sind – das betrifft auch das Analysieren der Bewegungsdaten und etwa die viel diskutierte App „Stopp Corona“ des Roten Kreuzes.
Finden Sie, das ist mit der Privatsphäre vereinbar?
Ich bin gespalten: Auf der einen Seite habe ich immer die These vertreten, dass das Recht auf Privatheit auch im digitalen Zeitalter aufrechterhalten werden muss. Auf der anderen Seite haben mir jüngere Menschen schon vor Corona gesagt, dass ich mit dieser Haltung vollkommen antiquiert sei. Der moderne Mensch gibt alle Daten preis, Transparenz sei das große Ziel. Wenn das so ist, verstehe ich nicht, warum es plötzlich ein riesiges Problem sein soll, wenn sie verwendet werden, um Gesundheitsmaßnahmen zu optimieren.
Stichwort Maßnahmen: Von einer Herdenimmunisierung sind wir weit entfernt, das Virus wird uns also länger begleiten. Nun stellt sich die Frage: Wie gehen wir auf Dauer mit Risikopatienten um? Sie zu isolieren ist verwerflich, sie der Gefahr auszusetzen zu gefährlich. Kann die Ethik eine Lösung bieten?
Vertritt man eine utilitaristische Ethik, würde man sagen: Das Wohl der meisten ist wichtiger als der Tod von wenigen Alten – sonst ruinieren wir unsere Gesellschaft und die Zukunftsperspektiven der Jüngeren. Eine andere Position wäre die eines Immanuel Kant und die Ansicht, dass es nicht möglich ist, das Leben eines Menschen anders zu bewerten als das eines anderen. Jedes menschliche Leben ist gleich viel wert, unabhängig davon, wie lang die Lebensperspektive ist. Hier muss man das Risiko für gefährdete Gruppen – zu denen auch jüngere Menschen mit bestimmten Erkrankungen zählen – klein halten, ohne sie zu isolieren und zu stigmatisieren.
Welcher Weg ist Ihrer Ansicht nach der bessere?
Zwischen diesen radikalen Alternativen plädiere ich eher für den mittleren Weg, den viele Staaten einschlagen, nämlich die Infektionskurven möglichst flach und die Todesfälle möglichst gering zu halten, um Zeit zu gewinnen. Das ist sicher die aufwendigste, teuerste, aber aus meiner Perspektive humanste Form damit umzugehen.
Die Politik muss hier den Einschätzungen von Wissenschaftern folgen. Hat die Forschung inzwischen die Macht übernommen?
Manche scheinen das zu befürchten. Virologen, Mediziner, aber auch Ökonomen sind jetzt zentrale Figuren. Doch unter den Forschern gibt es unterschiedliche Meinungen, das gewährleistet, dass die letzten Entscheidungen politischer Natur sein werden. Es gehört zum Geschäft der Politik, Widersprüche wahrzunehmen und nach dem Abwägen Entscheidungen zu treffen. Kommen wir hier zurück zur Klimakrise: In diesem Zusammenhang wurde gefordert, dass sich die Politik an Modellrechnungen der Wissenschaft orientieren soll. Es gab den Vorwurf, dass andere Interessen stärker berücksichtigt wurden. Jetzt denken viele plötzlich anders: Was die Wissenschaft vorrechnet, ist das eine, aber gibt es nicht auch andere Wege und Notwendigkeiten? Ich habe das Gefühl, in der Politik kann man es jetzt nur falsch machen. Hier sollte man vielleicht etwas vorsichtiger sein. Es gibt niemanden, der sagen könnte: Das ist das einzig Richtige, was getan werden kann.
Was sollten wir aus der Krise mitnehmen, was bewahren?
Als Gesellschaft, dass wir an einem Gesundheitssystem arbeiten, das für Pandemien besser gerüstet ist, als es in den ersten Wochen in Österreich der Fall war. Und als Menschen, dass wir erkennen, wie interessant es sein kann, wenn sich für einen kurzen Zeitraum Perspektiven völlig verschieben. Vielleicht könnte man aus dieser Krise auch Momente der Besinnung und des freiwilligen Innehaltens gewinnen, statt den Fokus immer nur auf das Treiben und Getriebenwerden zu richten.
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