Die Kunst, einen anderen Menschen (erotisch) zu berühren
"Berührungshunger“, auch "Hauthunger2 wird in Zeiten des Abstandhaltens zum omnipräsenten Thema. Wann darf wer wen berühren – und wie? Was genau heißt das für bestehende und vor allem werdende Beziehungen? Wie viel Abstand brauchen wir – auch abseits der Pandemie? Nach wie viel Nähe sehnt sich der Mensch? Bedeutet Nähe Intimität – und umgekehrt? Und wie beeinflusst all das die Sexualität?
Im weitesten Sinne beschäftigt sich damit „KISS“, ein Ausstellungsprojekt der Kunsthalle Wien – mit diversen Aktionen rund ums Küssen in Zeiten des Abstandhaltens. Dabei setzen sich Künstlerinnen und Künstler noch bis Ende September mit dem Thema Nähe und Distanz aktionistisch auseinander. Etwa Thomas Geiger, der Menschen auf der Straße einlud, ihn durch eine Glasscheibe zu küssen. Reizvoll oder doch eher traurig?
Mich erinnert das an die Geschichte einer Freundin, die ihre neue Flamme (aus der eine große Liebe wurde) vor vielen, vielen Jahren zum Flughafen brachte, weil der Mann für acht Wochen nach Paris musste. Der ärgste Airport-Moment nach einer durchvögelten Nacht war jener, als sie und er die Handflächen – getrennt durch eine Glasscheibe – aufeinanderlegten, um einander ein letztes Mal zu „spüren“, als symbolischer Akt. Dann fuhr sie heim und roch an seinem Bettlaken – der Duft erinnerte sie an seine gierigen, innigen, starken Berührungen der letzten Nächte – und an seine Hände. Bis heute sagt sie: „Auf gewisse Weise habe ich mich auch in seine Hände verliebt, wie sie auf mich reagierten und genau das taten, wonach ich mich sehnte.“ Der Mann hatte es offenbar drauf und die Landkarte ihrer Sehnsüchte lesen können. Er fand nicht nur ihre magischen Lust-Orte, er wusste auch damit umzugehen.
Bis heute sagt sie: ,Auf gewisse Weise habe ich mich auch in seine Hände verliebt, wie sie auf mich reagierten und genau das taten, wonach ich mich sehnte.’“
Mit den Händen hören
„Menschen sind wie Musikinstrumente, ihre Resonanz hängt davon ab, wer sie berührt“, schrieb der Literat Constancio C. Vigil. Berührung ist vielschichtig – sie kann zart und unschuldig sein. Oder so zögernd wie beim ersten Kuss, der ersten Umarmung, dem ersten Händchenhalten. Dann streicheln zwei Menschen einander vorsichtig – erkunden, was ist. Oder eben nicht. Berührung ist ein Schlüssel zum „Go“ oder „No-Go“. Wenn’s nicht passt – und das, was wir fühlen, unangenehm, kalt oder befremdlich ist – dann gibt’s kein Morgen.
Auf der anderen Seite kann richtig gute Berührung süchtig machen – auf einmal wird aus der gierigen Affäre eine Liebesbeziehung. Das passiert meist dann, wenn wir spüren, da ist jemand, der uns mit den Händen hören, fühlen und als Gesamtkunstwerk „erfassen“ kann. Der Körper wird mit Oxytocin geflutet – das „Bindungshormon“. Und plötzlich wird aus dem schnellen Sex in irgendeinem Stundenhotel etwas Längeres – wir verlieben uns. Zur sexuellen Intimität gesellt sich das ganz große Gefühlstheater. „Die Hauptwaffe der Natur, die Substanz, die uns geradezu zwingt, anderen nahe zu kommen, ist wahrscheinlich Oxytocin, ein Peptid mit fantastischer Wirkung. Es nimmt mit jeder Berührung zu“, schrieb die bekannte Sexualforscherin Theresa L. Crenshaw (1942-2001) in ihrem bekannten Werk „Die Alchemie von Liebe und Lust“. Je öfter wir mit jemandem eine „gute“ Nacht verbringen, desto mehr binden wir uns – gekommen, um zu bleiben. Das mag vielleicht auch mit dem Unterschied zwischen „Angreifen“ und „Berühren“ zu tun haben. Das eine ist automatisch, achtlos, fahrig – das andere ist spürend, zuwendend und erreicht letztendlich auch die Seele des Partners. Wir fühlen uns verstanden – und danach sehnt sich der Mensch.
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