Cottagecore: Warum die Jungen die Lust aufs Land entdecken
Mädchen in Puffärmelkleidern, die verträumt über die Blumenwiese wandeln oder ein Picknick im Grünen veranstalten. Das Brot im Körbchen ist selbst gebacken – aus selbst angesetztem Sauerteig, versteht sich. Die mitgebrachte Marmelade ebenfalls selbst eingekocht. Was wie die Beschreibung einer Szene auf einem impressionistischen Gemälde klingt, erfreut sich in den sozialen Medien derzeit großer Beliebtheit: die Selbstinszenierung vor beschaulicher Landkulisse.
Das Phänomen, das von Ernährung bis Mode alle Lebensbereiche umfasst, firmiert unter dem Begriff „Cottagecore“. Eine Zusammensetzung aus den englischen Wörtern „cottage“ für „Landhaus“ und „core“, das von „hardcore“ abgeleitet wird – quasi Landleben extrem. Allein auf Tiktok, der im Moment bei Jugendlichen angesagtesten Video-App, wurden mit dem Hashtag #cottagecore gekennzeichnete Videos über mehrere hundert Millionen Mal aufgerufen. In diesen wird vom Schwammerlsuchen bis zum Hühnerfüttern kein Klischee vom Leben auf dem Land ausgelassen. Weichzeichnungsfilter und pastellfarbenes Licht lassen dieses idyllischer wirken, als es in der Realität je sein könnte.
Auch Stars wie die Beckhams oder It-Girl Alexa Chung sind kürzlich mit Instagram-Postings aufgefallen, auf denen sie dem „simple life“ frönen.
Dass das Landleben – oder zumindest die idealisierte Vorstellung davon – bei jungen Menschen als angesagt gilt, beobachtet auch Matthias Rohrer vom Institut für Jugendkulturforschung. Nicht nur in der virtuellen, sondern auch in der realen Welt: „Das ist ein Trend, den es schon seit ein paar Jahren gibt und der jetzt in zugespitzter Form durch das Netzphänomen Cottagecore sichtbar wird.“
An dessen Beginn standen Travel Influencer, die in den sozialen Medien Bilder ihrer Reisen posten. Das einfache Dasein suchten sie vor allem in der Ferne. „Eine Zeit lang war es cool, nach Bali zu reisen“, sagt Rohrer. Heute würden Jüngere oftmals den heimischen Landtourismus bevorzugen: „Statt einen City-Trip nach Barcelona oder London zu machen, fahren sie zum Wandern nach Bad Gastein“, so der Jugendforscher. Zu beobachten sei diese Entwicklung vor allem bei jungen Erwachsenen im „gut gebildeten, besser situierten Segment“, die im urbanen Raum leben. „Die Sehnsucht nach dem ruhigen, schönen Landleben, das entschleunigt, ist ein Kontrapunkt zu dem, wie der Alltag tatsächlich aussieht.“ Zwar würden sie die Möglichkeiten, die ihnen die Stadt bietet, schätzen, punktuell aber nach einem Ausgleich zum hektischen Treiben suchen.
Rückkehr zu den Wurzeln
Diesem gänzlich entsagt hat die 29-jährige Melanie Zechmeister. Auf dem Land im burgenländischen Gols aufgewachsen, zog es sie nach der Matura nach Wien und Eisenstadt, um dort zu studieren und später als Grafik-Designerin zu arbeiten. „Mit der Zeit habe ich gemerkt, dass ich eine große Sehnsucht nach meinen Wurzeln habe und dorthin auch wieder zurückkehren möchte“, sagt Zechmeister. Heute lebt sie mit ihrem Partner, ihren beiden kleinen Kindern und Hündin Coffee wieder in Gols und betreibt ein Weingut.
Seit 2014 teilt Zechmeister außerdem auf ihrem Foodblog „das mundwerk“ die „alltäglichen, aber wunderschönen Dinge des Lebens“ und ihre „Faszination für die regionale Kulinarik“. Auf Instagram gibt Zechmeister mit ihrem Account, der wie ihr Blog heißt, ebenfalls Einblicke in ihr Familienleben im Einklang mit der Natur. Weil ihre digitalen Aktivitäten auf so große Resonanz stießen, bietet sie seit 2018 auch Workshops wie zum Beispiel Handlettering, Töpfern oder Brotbacken an, die sie zuhause in ihrer Summakuchl oder im Weingut abhält.
Außerdem ist sie Autorin mehrerer Kochbücher, ihr jüngstes ("Rezepte für eine gute Zeit") ist Ende August erschienen. In der Stadt zu leben, kann sie sich nicht mehr vorstellen, die Zeit dort möchte sie aber nicht missen, wie sie auf ihrem Foodblog schreibt: „Erst in der Stadt fand ich zu mir selbst, merkte, wie tief meine Bindung zu meiner Herkunft ist und auf welche unverkennbaren ursprünglichen Produkte wir zurückgreifen dürfen.“Im Spannungsfeld zwischen Stadt und Land bewegt sich auch das Wiener Label „Meshit“ von Lena Krampf und Ida Steixner. Die Kollektion „Laricha“, die sie mit der Designerin Kasa Schild entworfen haben, wird aus oberösterreichischen Bettwäschestoffen gefertigt, die heute nicht mehr produziert werden. Dadurch gibt es fast kein Teil zweimal, wie die Designerinnen betonen. Das Designkonzept der Kleidungsstücke – unter anderem Hosen, Kleider und Wickelshirts – zeichnet sich durch den Einsatz von Elementen wie Puffärmeln kombiniert mit minimalistischen Schnitten aus.
Auf dem Instagram-Account von Laricha werden sie oft in einem ländlichen Umfeld in Szene gesetzt; als Referenz auf die Herkunft der Stoffe, tragen sie die Namen von oberösterreichischen Gemeinden wie Weyregg oder Andorf. Auch der Name „Laricha“ ist eine lokale Bezeichnung für Leintuch. „Wir spielen gerne mit dem ländlichen Aspekt, aber wollen nicht, dass nur dieser dominiert“, so die Designerinnen. Sie verstehen „Laricha“ als zeitgenössische Kollektion mit ländlichen Wurzeln. „Die Looks fügen sich genauso gut ins Land- wie ins Stadtbild.“ Ein Credo, mit dem sich auch das Phänomen „Cottagecore“ gut beschreiben lässt.
Neues Lebensgefühl
Und wenngleich es nahezu ausschließlich junge Frauen sind, die dieses in den sozialen Medien bedienen – obwohl sie statistisch am häufigsten aus ländlichen Gebieten abwandern – ortet Rohrer einen gesamtgesellschaftlichen Trend: „Themen wie Nachhaltigkeit, Natur und Regionalität haben in jüngster Vergangenheit enorm an Bedeutung gewonnen.“ Damit können sich auch die Designerinnen von „Laricha“ identifizieren: „Laricha ist die Kombination aus Nachhaltigkeit und Individualität. Zwei Komponenten, die an Wichtigkeit gewinnen in Zeiten der Globalisierung und des Fast-Fashion-Wahnsinns – das ist auch das Lebensgefühl, das wir transportieren wollen.“ Ein Lebensgefühl, das in Zeiten von Corona eher zu- als abnehmen wird, ist Rohrer überzeugt.
Kommentare