Während andere Menschen in ihrer Freizeit chillen, steigt Michaela Knittel auf Berge. Und zwar nicht auf einfachen Wanderrouten und Forstwegen, sondern in Gebieten, die als Absturzgelände bezeichnet werden. Wer dort stolpert, fällt weit. Wieso tut die 27-jährige Angestellte das? Bei all dem Risiko, der Anstrengung, dem Der-Natur-ausgesetzt-Sein – sie könnte ihre Freizeit doch auch viel entspannter verbringen.
Warum immer rauf auf den Berg? „Spannende Frage“, sagt Knittel. „Ich kann sie mir selbst gut beantworten. Mit den Emotionen, die ich beim Bergsteigen erlebe, zum Beispiel. Aber das in Worte übersetzen? Schwierig.“ Was allerdings einfacher geht: Die Geschichte zu erzählen, wie das alles begann, mit ihr und dem Berg.
Knittel wandert, seit sie klein ist. Irgendwann, vor zwei Jahren, sie hat gerade ihr berufsbegleitendes Studium fertig, wird ihr das einfache Wandern zu langweilig. „Ich wollte höher hinaus und mehr Spannung am Berg“, erzählt sie. Also meldet sie sich für einen Alpin-Basis-Kurs an, rund 500 Euro, eine Woche Training. Dabei lernt Knittel, worauf es am Berg ankommt: Zum Beispiel auf die richtige Seil- und Tritt-Technik oder auf die sogenannte Spaltenbergung. Aber auch ausreichend Know-how zu Wetter, Geografie, Karten-, Schnee- und Lawinenkunde sind dabei von Bedeutung.
Verbesserte Ausdauer
Unter der Woche trainiert Knittel bis zu fünfmal, vor allem Muskeln, die beim Bergsteigen und Klettern nicht trainiert werden; an den Wochenenden ist sie draußen unterwegs. Was den Trainingseffekt angeht, wirkt Bergsteigen auf den gesamten Körper, wie Sportmediziner Timothy Hasenöhrl im KURIER-Gespräch erzählt. Außerdem stelle der instabile Untergrund am Berg einen Trainingsreiz für Balance- und Koordinationsfähigkeit dar. Ein weiterer gesundheitlicher Benefit: Ab 1.500 Metern Seehöhe beeinträchtig ein verminderter Sauerstoffpartialdruck die körperliche Leistungsfähigkeit, dadurch werden im Körper Anpassungsmechanismen aktiviert – es kommt zu einer Erhöhung der Blutbestandteile, die für den Sauerstofftransport verantwortlich sind. Experte Hasenöhrl: „Dieser Prozess wirkt sich positiv auf Ausdauer und Leistungsfähigkeit aus.“ Er betont allerdings, dass Bergsteigen – auch wenn es ein gutes Allround-Training darstellt – auf keinen Fall als Grundlagentraining gesehen werden darf. „Immerhin reden wir von einem Outdoor-Sport im Hochgebirge, wo medizinische Versorgung nur mit erheblichem Aufwand verfügbar ist. Ein gewisses Maß an körperlicher Fitness ist Voraussetzung.“
Bergsteigen wirkt sich positiv auf Ausdauer und Leistungsfähigkeit aus.
von Mag. Timothy Hasenöhrl, Sportwissenschaftler
Der Sportmediziner rät Beginner zu vorbereitendem Krafttraining mit Fokus auf Rumpf, Rücken- und Schultergürtelmuskulatur und Koordinations-Training. Bergsteigen kann man, anders als die meisten Sportarten, oft nicht alleine ausüben, vielmehr braucht es ein breites Netzwerk an Kletterpartnern. Wie findet man den richtigen Kletterpartner? Dafür gibt es, erzählt Bergsteigerin Michaela Knittel, digitale Plattformen und Gruppen wie „Outdoor-Active“, „Alpenverein-aktiv.at“ oder „Kletterpartner.at“. Das ist allerdings mit Vorsicht zu genießen, sagt sie. „Erstens kenne ich die Person nicht, außerdem weiß ich nicht, wie sie tickt, klettert, welche Techniken und Knoten sie verwendet und wie sie sich in Extremsituationen verhält.“
Knittel kritisiert, dass manchmal das Risikobewusstsein und der Respekt am Berg fehlen. „Ich muss keine Alpinistin sein, um auf einen Berg zu steigen. Ich muss mir nicht Unmengen an Ausrüstung kaufen. Aber es ist zwingend notwendig, die Gefahren zu kennen und diese einschätzen zu können – um mich selbst und die Menschen um mich nicht in Gefahr zu bringen und im Notfall zu wissen, was zu tun ist.“ Denn obwohl sich Bergsteig-Techniken und die Ausrüstung stetig weiterentwickelt haben, bleiben immer noch Gefahren wie Wetter, Steinschlag und die eigenen körperlichen Limits, die es zu bedenken gilt. Auch ihr sei am Berg schon etwas „passiert“. Sie kam mit Prellungen und viel Glück davon. „Heute weiß ich, dass ich mehr auf mein Bauchgefühl und meine innere Stimme vertrauen muss; denn oft spürt man schon beim Start, dass etwas nicht passt.“
Manchmal muss ich mich beim Bergsteigen in Sekundenbruchteilen entscheiden. Das sehe ich als Privileg.
von Michaela Knittel, Bergsteigerin
Sich nicht überschätzen
Thomas Rettenwender ist schon seit 40 Jahren am Berg. Täglich kommen Interessierte ins Bergfuchs, sein Outdoor-Geschäft in Wien, und wollen wissen, worauf es beim ersten Mal ankommt. „Am Anfang“, sagt Rettenwender dann, „ist der behutsame Einstieg am wichtigsten.“ Der erfahrene Bergsteiger empfiehlt, eine Route mit deutlich weniger Wegzeit einzuplanen, als man sie bereits auf einer Wanderroute schaffen würde. Denn erstens ist die Leistungsfähigkeit pro tausend Meter Seehöhe um zehn Prozent heruntergesetzt, und außerdem ist es wichtig und ungewohnt für Wanderer, sich noch Ressourcen für anspruchsvollere Passagen aufzusparen. Als Einstiegsroute empfiehlt Rettenwender den Rauen Kamm am Ötscher. Sportmediziner Timothy Hasenöhrl spricht eine weitere Gefahr für Beginner am Berg an: soziale Medien. „Wenn die Bergwanderung nicht mehr ausreicht, weil es ein noch spektakuläreres Selfie braucht oder wenn mein Fitness-Tracker meinen Freunden offenbart, dass ich eigentlich total unfit bin, dann kann mich das antreiben, mehr zu wagen, als eigentlich gut ist.“
Auch einfache Bergsteig-Routen benötigen eine gute Wanderausrüstung, sagt Outdoor-Experte Rettenwender. Ein klassischer Anfängerfehler sei, auf einen zu leichten Schuh zu setzen. „Aber das ist am Berg ein Fehler.“ Als Richtwert nennt der Experte 500 Gramm pro Schuh. Darüber hinaus sollte er über die Knöchel gehen, um Stabilität zu gewährleisten. Was sollten Bergschuhe kosten? „Ab 200 Euro gehen gute Modelle los.“ Weitere essenzielle Basics: Klettergurt, Helm, Seile, Karabiner und so genannte Express-Schlingen, die fürs Absichern zwischendurch benötigt werden. Nicht zu vergessen: eine komplette Notfallausrüstung mit Erste-Hilfe-Packerl, Regenjacke, Fließjacke gegen die Kälte sowie Haube und Handschuhe.
Noch einmal zurück zu Bergsteigerin Michaela Knittel und ihrer Motivation, immer wieder Richtung Gebirge aufzubrechen. „Es ist paradox: Du wirst bestimmt von Wetter, Zeit, deiner körperlichen Verfassung, Bergpartnern. Und trotzdem fühle ich mich in den Bergen frei. Denn manchmal muss ich mich beim Bergsteigen in Sekundenbruchteilen entscheiden. Das sehe ich als Privileg. Zu bestimmen ob und wie ich etwas mache – das ist die größte Freiheit, die man als Mensch in der heutigen Welt erleben darf.“
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