Abenteuer einmal anders: Ich war dann mal auf Kur
Jaja, jeder kommt einmal in das Alter.“ Das ist spöttisch-mitleidig, und überschaubar originell ist es auch. Aber man hört’s in Endlosschleife, wenn man sich entschließt, auf Kur zu gehen – erstmals im Leben, in dem man das wirklich niemals vorgehabt hätte. Aber wenn das Kreuz zwickt und der Orthopäde dazu rät: „Wenn Sie nicht zu Lebzeiten eine Kur bewilligt bekommen, später kriegen Sie keine mehr.“
Wie jetzt, zu Lebzeiten? Im Jenseits gibt’s auch Kuranstalten? Gemeint hat er, dass man als Berufstätiger einmal eine Kur genossen haben muss, sonst bekommt man später in der Pense nie mehr eine bewilligt – das ist tatsächlich österreichische Praxis. Österreichische Logik ist es auch.
Wohlan, der Antrag beim Hausarzt ist einfach, die Bewilligung folgt schnell: Die Pensionsversicherung (warum eigentlich die?) übergeht in ihrem ausführlichen Antwortschreiben justament das beantragte Kurhotel und schlägt ein ganz anderes vor. Mit guter Begründung stünden auch sechs Ausweichquartiere zur Disposition. Der Antragsteller schlägt justament das vorgeschlagene Kurhotel aus und wählt von den übrigen ein adrett aussehendes in einem adretten Kärntner Tal („adrett“ muss als gute Begründung reichen). Weiß der Teufel, warum gerade dieses. Weil es ist a) weit weg, und er hält b) das Kärntner Idiom um die Burg nicht aus.
Das mit dem Idiom ist eine Marotte des Autors, für die die lieben Kärntner nichts können. Sondern nur ein Kärntner, der ihm vor langer, langer Zeit als notorischer Vielsprecher mit der markanten Wöadadeich-Aussprache furchtbar auf die Nerven gegangen ist. Das mit dem Kärntner Idiom ist aber ohnehin nicht weiter schlimm. Weil, wie sich gleich nach Kurantritt herausstellt: Beim freundlichen Kur-Übungspersonal hat das ungarische Idiom die Oberhand. Auch nicht schlimm, außer wenn’s um Detailfragen geht. Wie zum Beispiel jene gleich zu Beginn, wie weit das kaputte Kreuz und der Kraftkammer-Marterstuhl kompatibel sind. „Müssään probierään. Wenn weh tut, lieba Finga davon losen.“ Da muss man erst einmal drauf kommen, danke Kur!
"Bääcken kreisen"
Die Kur hat sich verändert, hat die Hausärztin gewarnt. Statt vieler auf den Einzelnen zugeschnittener Therapien gibt es heute fast ausschließlich die Gruppenübung mit dem Blick nach vorne. „Einsparung“ sagen die erfahrenen Kur-Geher und Kritiker; „Prävention, damit man die Einzeltherapie erst gar nicht braucht“, sagen die Verantwortlichen. Vorbeugung geht also am besten gemeinsam. Mit sieben Damen bei der Unterwassergymnastik zum Beispiel, mit Schwimmnudel und fröhlich-kollektivem Gelächter, wenn die Wassertherapeutin vorbetet: „Armä strääcken und Bääcken kreisen“. Als Mann weiß man im kreisenden Becken schnell: Prävention ist kein Honigschlecken.
Die Fixpunkte jeder Kur haben fixe Zeiten: 7-9, 11-13, 17-19 Uhr. Nahrungsaufnahme. Zur Frühstunde darf man sich gehen lassen, kleidungstechnisch, weil ja schon Gruppenübungen, Bäder und diverse Strombehandlungen vor und nach dem Frühstück auf dem Programm stehen. Zu den anderen Zeiten sind Bademäntel und Trainingsgewänder nicht gerne, aber dennoch viel gesehen. Zu viele fühlen sich schon wie zu Hause. Der Kurgast wird am ersten Tag schon tischzugeteilt, und zwar unwiderruflich, was dem passionierten Misanthropen nicht entgegenkommt. Der gepflegten älteren Dame an einem sonst mit Männern besetzten 6er-Tisch auch nicht: „Der ist ja sturzbetrunken“, flüstert sie kopfschüttelnd, als ihr Vis-à-vis zum Buffet wankt – um Semmeln, Marmelade und das Frühstücksei zu holen.
Ins Burnout rutschen
Nach drei Tagen gibt’s dann doch noch die mit Freude erwartete erste Physio-Einzeltherapie (von ganzen zweien in drei Wochen!). Der für eine erkrankte Therapeutin eingesprungene Aushilfstherapeut tritt an die Liege, drückt zwei verdächtige Beuger-Muskeln („Dort lagert sich alle negative Emotion ab“) und hält dann die Füße des Kurgasts in beiden Händen. „Was machen Sie jetzt“, fragt der, als minutenlang nichts weiter passiert. „Ich lasse meine Energie zu Ihnen fließen und schaue, was die mit den freigesetzten Emotionen macht.“ – „Und was macht die?“ – „Was glauben Sie?“ Hernach lässt er noch seine Hände über den Körper des Wehrlosen kreisen („Aura-Wechsel“) und empfiehlt zum Abschluss, sich im Anschluss noch ein Zeiterl niederzulegen – es könne sein, dass man stark schwitze, Hunger bekomme oder das Gegenteil, zu zittern beginne oder einfach nur anfange, zu weinen, „aber nur zehn Minuten“. – „Weinen wegen dieser Behandlung?“ Die Frage findet er nicht lustig.
Nach fünf Tagen spielt sich alles ein. Man trifft auf unzähligen Wegen zu unzähligen Bädern, Therapien, Gymnastikräumen oder Vorträgen („Wenn Sie wieder bei der Arbeit sind, alle zwei Stunden eine Pause, wir wollen ja nicht ins Burnout rutschen, gel?“) immer dieselben Kurgäste. Wie lebende Wegweiser, die man aber gar nicht mehr braucht. Das Personal ist fast ausnahmslos sehr nett, und das „fast“ liegt ja nur daran: Wollen Sie den ganzen Tag mit Kurgästen zu tun haben?!?! Nein, die Gäste sind natürlich auch nett. Ein Panoptikum halt wie in der Straßenbahn oder im Urlaubsflieger. Man ist trotzdem per Du miteinander, wie auf einem hohen Berg. Und man will sich nicht ausmalen, wie das vor ein paar Jahren war (Tischfreund und Stammgast Christian erzählt’s), als drei Meter Schnee lagen, der Strom ausfiel und man drei Tage von der Außenwelt abgeschlossen bei Kerzenlicht lebte, ohne Chance, zu entkommen.
Apropos Stammgast
Viele Ehepaare sind hier und viele Wiederkehrer, Freundesrunden, die sich zur Kur verabreden, manche Jahr für Jahr respektive zwei Jahr für zwei Jahr wieder (da geht die nächste Bewilligung durch). Da fällt einem Hannes Androsch ein, der dem Autor einmal erzählte, wie sie in den einzelnen Abteilungen eines staatsnahen Eisenbahnbetriebs (dessen Namen wir nicht erwähnen wollen) im Herbst in fröhlicher Kalenderrunde sitzen und Urlaube, Fenstertage, Krankenstände, Pflegeurlaube und Kuren für das kommende Jahr ausschnapsen und verteilen.
Morgen steht „Mikrowelle“ auf dem Programm. „9.40 bis 10 Uhr“. Hoffentlich nicht in der Küche, hallo!? – in den USA ist es verboten, Katzen und Babys in der Mikrowelle zu trocknen (steht auf jedem Gerät), und hier gehört das zur Therapie? Übrigens: Das Essen im Kurhotel kommt nicht aus der Mi-krowelle und ist überraschend schmackhaft. Wer sich nicht selbst bremst, nimmt hier in drei Wochen zehn Kilo zu, so viel Ernährungsberatungsvorträge (z. B.: „Ernährung im Alltag: Berufstätige“ – und dann träumen wir weiter ...) kann’s gar nicht geben.
Der Sauna-Affe
Wer die gemeinsame Sauna mit Wildfremden nicht scheut, hat (in Nicht-Coronazeiten) die Chance, ein ganz spezielles Exemplar kennenzulernen: den Sauna-Affen. Das ist der Primat unter den Sauna-Gängern, das Alpha-Tier kraft der Gabe, mit dem Handtuch kraftvoll über dem Kopf zu kreisen, dann den Aufguss mit Bauch-rein-Brust-raus-Pose zu zelebrieren, anschließend den anderen Tieren im Schwitzraum mit besagtem Handtuch Heißluft zuzuwacheln und dann alles wieder von vorn, Über-Kopf, Aufguss, Wacheln.
Das Alpha-Alpha-Tier hat das verwendete Handtuch zuvor um seine Hüften gebunden, nur dann wirkt es. Unter Naturschutz steht der Sauna-Affe übrigens nicht. Dazu gibt es zu viele seiner Art.
Das Frühstücksbüffet
Auch von der Gattung Eier-Dieb gibt es zu viele. Das sind jene Gäste, die am Frühstücksbuffet beim gemeinschaftlichen Eierkocher am Intelligenztest scheitern, sich die Farbe des Bändchens am Eierhalter (grün, rot, weiß oder blau, ein oder zwei Bändchen) zu merken, der mit dem selbst eingelegten Ei im köchelnden Wasser baumelt. Fünf Minuten sind auch eine lange Zeit.
Das mit Abstand Wichtigste bei einem Kuraufenthalt ist die Unterschrift. Die, mit der der Kurgast bei jeder verordneten Einheit bestätigt, dass er auch da ist. Und die, mit der dem Kurgast in seinem Pflichtenheft bestätigt wird, dass er auch da war. Macht in Summe in drei Wochen 162 Signaturen. Pfeif drauf, wenn die Therapie nicht passt – weil zu Beginn der Kur zwar der Blutdruck akkurat gemessen wird, aber sonst niemand wirklich auf den Kur-Anlass schaut oder die Therapie ordentlich abstimmt – , Hauptsach’ die Unterschrift passt.
Lust am Laufen
Gleichwohl: Moorpackungen, Bäder, selbst Dehnungsübungen im Verbund tun am Ende dann doch gut, die Motivation zu viel Bewegung und die frische Luft auch. Der Autor hat wieder Lust am Laufen bekommen, und die im Laufe der Kurwochen wieder gesundete Physiotherapeutin hat (um extra gezahlte Zusatzeinheiten) in Sachen Rücken auch noch ihr diesfalls tatsächlich kompetentes Bestes getan. Durchgehalten haben alle bis zum Schluss, der erwähnte Tischnachbar auch seinen Pegel (dafür hat man einen anderen tatsächlich zum lieben Freund gewonnen). Und vielleicht muss man das alles halt so sehen, wie die meisten hier: ein verordneter Urlaub mit ein bisschen Turnübungen. Um das konkrete Gesundheitsproblem kann man sich ja danach kümmern: „Nach Ihrer Kur empfehlen wir: Ambulante Wirbelsäulen Rehabilitation“ lautet der Titel eines Folders, der zum Abschied nach drei Wochen im Schlüsselfach liegt. „Kontaktieren Sie noch heute ihr Fach-Ambulatorium ...“ Danke für den Tipp.
Das muss man zu Lebzeiten dann doch einmal erlebt haben. Und sollte es im Jenseits doch Kuranstalten geben: Ob das dann im Himmel oder in der Hölle ist, liegt wohl im Auge des Betrachters.
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