Vorbei an der Blutspur zum Skywalk gehen
Die Hohe Wand ist ein beeindruckendes Karstplateau im Süden von Wien. Sein Name verspricht nicht zu viel. Die Felsabbrüche an der Süd- und Südostseite des Massivs sind hunderte Meter hoch und bei Kletterern sehr beliebt. Die Routen tragen Namen wie „Blutspur“ oder „Totenköpflsteig“, das muss zur Einstimmung genügen.
Ich besuchte die Hohe Wand, um dem Nebel in Wien zu entkommen. Ich schlich mit dem Auto die kühne Bergstraße hinauf auf die Hochebene, in den Naturpark. Die Nebelgrenze zu durchdringen ist jedes Mal ein erhebendes Erlebnis, sogar auf einer schmalen Bergstraße, inmitten einer zuckelnden Kolonne. Plötzlich dieses Licht. Plötzlich diese Übersicht. Ich war von einer leichten Euphorie durchflutet, als ich vom Parkplatz zur großen Sehenswürdigkeit der Hohen Wand hinunterspazierte, dem sogenannten „Skywalk“. So heißt das Stahlgerüst, das über den Felsabbruch der Hohen Wand hinausgebaut ist, eine Aussichtsplattform für Mutige, die es ertragen können, durch das Gitterblech hinunter in die Totenköpfltiefe zu schauen.
Ich bestand die Mutprobe auf dem Skywalk. Aber der Genuss der fabelhaften Aussicht fuhr mir erst ein, als ich auf einem Bänklein hundert Meter entfernt saß, ja, in Sicherheit, und die Strahlen der Sonne genoss wie einen perfekt temperierten Snickers-Riegel, knapp vor dem Schmelzen. Ich merkte direkt, wie mein Körper Serotonin, Dopamin und Noradrenalin zu produzieren begann. Ungewöhnlich, dass sich dieses Hochgefühl ohne vorhergegangene Bewegung einstellt, ich bekam fast ein schlechtes Gewissen. Ging zurück zum Parkplatz und wählte auf der großen Übersichtstafel des Naturparks Hohe Wand den Weg aus, den ich jetzt gehen würde, sozusagen als Dank für die schon empfangene Belohnung.
Waldeggerhaus und Engelbertkirche
Ich entschied mich für den Rundwanderweg 2, eine etwa zweieinhalb Stunden lange Tour, und ließ die doch recht ansehnlichen Mengen von Menschen, die sich an den Aussichtspunkten ihre Dopamineinheiten abholen wollten, hinter mir und war bald einmal allein im Gelände. Ich stieg zum Waldeggerhaus auf, das natürlich geschlossen war, sah über dem Nebel hinüber zur Rax und zum Schneeberg, folgte dem Wegweiser durch schüttere Wälder und den Saugraben Richtung Engelbertkirche, bei der ich nach zwei Stunden zufrieden ankam und mich anschickte, eine kleine Rast zu halten.
Erst das an der Wand der Kirche befestigte Schild klärte mich darüber auf, welchem Engelbert hier ein Andenken gesetzt wird. Es handelt sich um Engelbert Dollfuß, dem sein Nachfolger Kurt Schuschnigg und die Vaterländische Front im Jahr 1935 dieses etwas plumpe Kirchlein gewidmet haben, um ihn als „Märtyrerkanzler“ zu glorifizieren. Ein aktueller Hinweis, dass der 1934 von den Nazis ermordete Dollfuß auch der Begründer des austrofaschistischen „Ständestaats“ war, das Parlament aufgelöst und als Diktator regiert hatte, fehlt. Das sollte bitte schleunigst jemand nachholen.
Ich ließ die Engelbertkirche und meine Befremdung hinter mir zurück und beendete meine Runde bei der Aussicht. Über dem Nebel, im Glück.
christian.seiler@kurier.at
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