Christian Seilers Gehen: Über Brücken gehen statt Neues anzufliegen

Christian Seilers Gehen: Über Brücken gehen statt Neues anzufliegen
Belvedere – Schweizergarten – Arsenal – Arsenalsteg – Sissy-Löwinger-Weg– Maria-Lassnig-Straße – Hlawkagasse – Helmut-Zilk-Park – Karl-Popper-Straße – Canettistrasse – Schweizergarten: 4.000 Schritte

Der Weg ins neue Wien führt über eine hohe Brücke. Nachdem ich eine Zeit lang durchs Arsenal, diesen ehemaligen Militärkomplex, gestromert bin, erklettere ich kurz entschlossen den muskulösen, weißen Arsenalsteg, der neuerdings den dritten mit dem zehnten Bezirk verbindet und finde mich wenig später in bevorzugter Aussichtsposition auf der dreizehn Meter hohen Konstruktion direkt über der Bahntrasse wieder.

Der Himmel ist heute ausnahmsweise hoch. Ich mache mir den Spaß, nicht nur die neuen Fassaden zu betrachten, die entlang der Schienen entstanden sind, von Renzo Pianos Wohnhochhäusern bis zu den Bürotürmen beim Hauptbahnhof. Dieses durchaus eindrucksvolle Ensemble markiert einen kräftigen Kontrast zum historistischen Komplex des Arsenals, das hinter einer hohen Schallschutzmauer und einer schütteren Baumzeile von einer anderen Zeit erzählt.

Sechzen Schienenstränge

Ich zähle die Schienenstränge und komme auf sechzehn – vielleicht sind es aber auch einer mehr oder weniger. Zug fährt gerade keiner. Auf Abstellgleisen sehe ich CAT-Garnituren stehen, die derzeit außer Dienst sind, weil wir keine regelmäßigen Verbindungen zum Flughafen brauchen. Irgendwie habe ich mich daran gewöhnt. Auf meiner Miles&More-Jahresabrechnung steht gerade „1 Flugsegment“, das war zuletzt vor etwa hundert Jahren so.

Statt neue Welten anzufliegen, überquere ich jetzt Brücken. Diese hier hat der Architekt Albert Wimmer geplant, sie hat in der Anordnung ihrer Bögen und Stränge etwas Calatravamäßiges, und sie führt direkt ins Herz des neuen Sonnwendviertels, namentlich an die Adresse Sissy-Löwinger-Weg. Das ist ein weiterer hübscher Kontrast: hier die Volksschauspielerin, die der legendären Löwingerbühne vorstand, einer Institution, deren Humor, sagen wir so, echt volksnah war. Dort die vielleicht ehrgeizigsten Elemente der Wiener Stadtentwicklung, Niedrigenergiehäuser, Genossenschaftsmodelle, Wohnkomplexe mit sozialem und ökologischem Pfiff, Studentenheime, vielfarbig, freiflächenorientiert, Holzfassaden, ausgeklügelte Spielplätze, Bioläden, Montessorischulen, Versprechen, die an das moderne, urbane Herz appellieren.

Gefühl von zu Hause

Im riesigen Helmut-Zilk-Park spielen Väter mit ihren Kindern Fußball. Vor der Bäckerei stehen Menschen zusammen und trinken aus Pappbechern Kaffee. Aus irgendeinem offenen Fenster strömt der Sound eines Billie-Eilish-Songs, ich fühle mich sofort ein bisschen zu Hause.

Als ich nach einer Tour durch das Viertel zum Sissy-Löwinger-Weg zurückkehre, bleibe ich kurz stehen und betrachte ein perfektes Bild, in dem sich das große Landmarkgebäude des Stadtteils jenseits der Bahn, der 155 Meter hohe Postturm namens Alfred, auf pittoreske Weise zwischen die Schwünge des Arsenalstegs und das Oval eines ehrgeizig gestalteten Parkhauses schiebt. Das Wien, das einmal modern war – genau genommen 1975, als der Richtfunkturm aufgestellt wurde –, verbindet sich auf diesem Bild mit dem Wien, das gerade modern ist und den Übergang in die Zeit markiert, an der findige Menschen gerade arbeiten.

Die Zukunft ist immer im Anflug.

christian.seiler@kurier.at

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