Christian Seilers Gehen: Die Leere funkelt und glitzert

Christian Seilers Gehen: Die Leere funkelt und glitzert
Rotenturmstraße – Stephansplatz – Graben – Kohlmarkt – Schauflergasse – Ballhausplatz – Volksgarten – Burgtheater – Rathauspark: 2.800 Schritte

Weil in diesem Jahr alles so anders ist als sonst, mache ich keinen großen Bogen um den Christkindlmarkt, sondern suche ihn freiwillig auf – oder wenigstens das, was den Christkindlmarkt eigentlich flankieren sollte, nämlich den Rathauspark mit seiner abgefahrenen Lichtshow, ein Stück Innenstadtwien, das aussieht, als hätte ein Rathaus-Designer auf LSD all seine Träume verwirklicht. Der Reihe nach. Ich prüfe an diesem Adventabend die Stadt auf ihre Lichteffekte. Gehe die Rotenturmstraße stadteinwärts und freue mich über die dicken, roten Kugeln, die über der Straße schweben, überquere den Stephansplatz, was mir den Ausblick auf gleich zwei Weihnachtsbeleuchtungen erlaubt, jene der Kärntner Straße, die ich etwas shoppingcenterhaft finde, während die überdimensionalen Luster, die den Graben in ein mildes, warmes Licht tauchen, glamourös und einladend sind.

Folgerichtig spaziere ich unter den Lustern Richtung Kohlmarkt, wo die lichtmäßig vielleicht prächtigste Meile der Stadt beginnt. Bis zum Michaelerplatz promeniere ich unter einem so strahlenden, dichten Lichtfirmament, dass ich das Gefühl bekomme, ich selbst beginne zu strahlen wie ein Pullover von Gucci oder ein Pelzkragen von Loro Piana.

Orangerot

Auf dem Michaelerplatz angekommen, sehe ich, dass das Bundeskanzleramt am Ende der Schauflergasse organgerot beleuchtet wird. Das Licht soll ein Zeichen dafür setzen, dass auch Österreich sich an der UN-Kampagne „Orange the World“ beteiligt, die auf Gewalt gegen Frauen und Mädchen aufmerksam macht. Gut so.

Ich gehe vorbei an Präsidentschaftskanzlei und Bundeskanzleramt. Ein paar Polizisten und Personenschützer haben mich fest im Blick, bis ich in den Volksgarten einbiege, wo sich der Theuseustempel weiß und sauber aus der Dunkelheit schiebt. Bald darauf nehme ich im Halblicht dieses Vorweihnachtsabends die Parade Hunderter Rosenstöcke ab, die vorsorglich in schützendes Textil eingehüllt wurden, dann gehe ich am Burgtheater vorbei und überquere den Ring, um einzutauchen in das Schauspiel der Farben, das visuell laut und schreiend ist, aber nicht vom üblichen Soundtrack begleitet wird, nämlich dem Gekreisch der Punschtrinker, dem unverschämten Locken der Standler, dem Plärren der Kinder, denen völlig übermüdet die Zuckerwatte in den Gatsch gefallen ist.

Massen sind anderswo

Aber wo sonst der Christkindlmarkt stattfindet, wird jetzt der Eistraum aufgebaut, der früher als geplant öffnen kann, und die Massen, die den Park sonst in einen wochenlangen Kirtag verwandeln, sind anderswo.

Ich bin fast allein, als ich auf den verschlungenen Wegen durch das Lichtspektakel wandere, blaue Sterne, rote Herzen, gelbe und blaue Kugeln, flackernde Kerzen, Lichtschwaden um einen Christbaum, eine tiefblaue Krippe, ein wildes Durcheinander an Farben und Geschichten, Blau, Grün, Rot, Weiß, irgendwo fotografiert jemand Selfies, und am Rathaus hängt eine haushohe Hofer-Werbung, die uns auffordert, Kekse zu backen. Ich fühle mich wie der psychedelische Rathausbeamte, nur die Tonspur ist falsch: Es ist tatsächlich die stillste Zeit im Jahr.

christian.seiler@kurier.at

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