Irgendwann im Laufe unseres langen Gesprächs fragen wir ihn: Welcher Baum schmeckt eigentlich besonders gut? Wir hören es uns sagen, fast beiläufig, als frage man jemand nach seiner Lieblingsfarbe. Als würde man so etwas jeden Tag fragen. Und natürlich kommt auch da prompt eine Antwort: der Kirschbaum, erklärt Stefan Wiesner. Nicht im Herbst, wenn er laubig ist und welkt, dafür im Frühling, wenn seine Blüten blühen. Da schmecke er speziell und munde äußerst gut. Dann fügt der Gourmetkoch hinzu: „Kirschbaum: mega.“
Es ist ein ungewöhnlicher Mann, der da im Wald am Feuerring steht. In der riesigen, schwarzen Stahlschale vor ihm brennen die Holzscheite, lodert das Feuer. Der Schweizer ist von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, einzig die helle Schürze hebt sich ab, den Kopf umschirmt eine Melone. Die Luft schmeckt nach Asche. So kocht Wiesner am liebsten, mitten unter dem freien Himmel, direkt an der Glut, und mit den vier Elementen: Erde, Feuer, Wasser und Luft. „Das hat etwas Archaisches“, sagt er. „Das Feuer ist etwas Lebendiges, mit dem man sich erst arrangieren muss. Einfach himmlisch.“
Wiesners Kunst ist die alchemistische Naturküche, und eine Kunst ist es wirklich: Er hat sich mit seinem Gasthof Rössli in Escholzmatt, eine Stunde von Luzern, damit einen Michelin-Stern erkocht. Es ist die höchste Auszeichnung, die ein Koch weltweit erreichen kann.
Was Wiesner so speziell macht: Seine Zutaten bezieht er allesamt aus dem, was die Natur preisgibt. Und das sind nicht nur Tiere und Wildpflanzen und Kräuter. Sondern auch höchst außergewöhnliche Ingredienzien. Holz, Blätter, Moos, Torf, Granit, Eisenerz, Asche, Stroh: „Der Hexer vom Entlebuch“, wie er genannt wird, kreiert aus Altem Wissen Gerichte, die man wohl als avantgardistisch bezeichnen kann. „Aus der Natur kann ich so gut wie alles verkochen.“ Das sagt er nicht nur so.
„Das Alchemistische daran ist, dass wir so gut wie alles destillieren“, erklärt der 59-Jährige sein Küchencredo. „Nicht nur Pflanzen, sondern auch Hölzer und Steine.“ Nehmen wir die Birke. Der Baum strotzt vor Möglichkeiten, „Root to Leaf“ lautet das Motto, also von der Wurzel bis zum Blatt lässt er sich vom Menschen verwerten. Er lässt sich zubereiten oder aber Wiesner destilliert seine Rinde und veredelt damit Suppen, Sauerrahm, Pudding und Eis. Die Holzkohle der Birke verwendet er zum Kochen. Andererseits kann er sie zu Senf verarbeiten – „die Inhaltsstoffe der Kohle wirken auf unseren Körper desinfizierend.“
Das Geheimnis der Ameisen
„Toll“, schwärmt er. Überhaupt sei die Birke sozusagen ein Wunderwerk des Waldes. „Im Holz ist Vanillin enthalten. Kocht man es mit Milch und Schlagobers aus, erhält man ein Holzglace. Daraus kann man dann Holzeis, Holzsaucen oder Holzkäse kreieren.“
Dem nicht genug: Wird die Birkenrinde ohne Wasser destilliert, ergibt sie in der Verbrennung Essig. Der daraus entstehende Birkenteer ist ein erstklassiger Klebstoff, den man bereits in der Steinzeit kannte, weiß Wiesner. Aber auch in den Topf gibt der Schweizer das baumige Pech: „Der Geschmack ist wunderschön.“ Wie jener des Birkenzuckers, enthalten in der Gewebeschicht des Kambiums. „Den können Sie im Frühling pur essen.“
Seine Zutaten erhält Wiesner von Produzenten im Umfeld oder aus seinem Garten. Wichtig ist ihm die Nachhaltigkeit, dafür gab es von Gault&Millau den Grünen Stern. Und: regional kommt vor global.
Bis zu 25 verschiedenen Holzsorten verarbeitet er, vom Nussbaum übers Rosenholz bis zur Rottanne. Aber auch er selbst holt sich, was er für seine Küchenexperimente benötigt. Dann schnappt er sich morgens die Motorsäge, steigt in seinen Land Rover und sägt sich im Wald, was er braucht. Fällt sein Blick bei seinen Streifzügen auf einen Ameisenhaufen, lässt er den nicht einfach links liegen. Selbst den krabbeligen Waldbewohnern trotzt der Hexer einen kulinarischen Tribut ab. Wie selbstverständlich holt er dann ein weißes Taschentuch aus der Hosentasche und legt es auf den Hügel. Die Säure, die die Ameisen dabei absondern, wird vom Stoff aufgesaugt. Und gibt diesen Geschmack später auf das Joghurt ab, in dem Wiesner es einlegt. Der Naturkoch wird es später als Marinade verwenden.
Die Bäume singen hören
„Das ist altes Wissen, bei uns auf dem Lande kommt man damit noch häufiger in Berührung“, erklärt Wiesner. „Man muss nur zuhören, einem alten Mann oder einer alten Frau, einem Säger oder Bauern, Schnitzer oder Winzer.“
Wenn er durch den Wald streife, erzählt der Hexer, höre er die Bäume singen. Das sei das Wasser, das diese durch die Wurzeln aufnehmen und mittels des Leitsystems Xylem durch das Holz transportieren. „Wenn Sie ein Stethoskop hätten, könnten Sie es hören.“ Geht Wiesner durch den Wald, nimmt er eine Klangwelt wahr. „Denn wenn der Baum singt, singt die kleine Heidelbeerstaude ebenso.“
Kochen, und das ist Wiesner wichtig, ist für ihn eine hochphilosophische Angelegenheit. Klang, Duft, Architektur, Design, Farben – all das und noch mehr vereint für ihn die Küchenkunst. Das merkt man auch seinen Menüs an. Er benennt sie etwa Futurisma, nach der italienischen Kunstrichtung der Dreißigerjahre oder Dadaismo; in anderen thematisiert er Paul Cézanne oder den türkischen Pianisten Fazil Say. Diesen Themen und Titanen versucht Wiesner zu entsprechen, mit Aroma, Duft, Geschmack.
Kochen, das gebe Macht, sinniert der Schweizer, der auch an der Fachhochschule Basel als Gastdozent unterrichtet. Es kann krank machen, aber auch helfen gesund zu werden. Mit der Spagyrik, der Heilmethode, die auf Paracelsus zurückgeht, hat der Autodidakt sich ebenso eingehend befasst, wie mit Parfümerie oder anthroposophischer Medizin. Aal räuchert er mit Rottanne, rohen Torf serviert er mit Schokolade. Kürbisse setzt er auf Ameisenhaufen, Büffelmilchreis versetzt er mit dem Rost von Nägeln.
Sogar Steine werden gekocht
Selbst vor Steinen macht er nicht Halt. Edelsteine wie den Rosenquarz oder den Bergkristall etwa. Oder Bernstein. „Wenn man den in Alkohol einweicht, löst sich der versteinerte Harz auf“, so Wiesner. „Dann kann man den Bernstein essen oder trinken.“ Oder ihn zum Räuchern verwenden.
Einer seiner Freunde besitzt eine Spezialmühle, mit der er ihm die Steine mahlt, etwa Granit, Nagelfluh, Marmor und Eisenerz. Grob geschrotet werden sie unter Zugabe von etwas Wasser destilliert. „Wir machen dann Steinbrot daraus, oder Steinkäse.“
Nicht immer stieß das auf Zuspruch. Das Tal, in dem Wiesner 1989 mit seiner Frau den Gasthof Rössli seiner Eltern übernahm, ist klein. Da sollte es vor allem schnell, viel, gut und preiswert sein. Das Paar musste sich behaupten, so Wiesner. Und baute dennoch parallel eine Gourmetküche auf.
Es wundert nicht, dass der Mann, der eine rabenschwarze, steinhart getrocknete Trüffelknolle als Kette um den Hals trägt (eine Zeit lang begeisterte er sich für selbst gemachten Trüffel-Schmuck), nach mehr strebte. Als Vorbild nennt er einen, der kein Koch ist: Komponist Alexander Skrjabin ist ihm ein Bruder im Geiste. Der Pole galt als Exzentriker der Klaviermusik, radikal, revolutionär.
Ein anderes Alter Ego sieht Wiesner in Jean-Baptiste Grenouille. Der Protagonist in Patrick Süskinds Roman „Das Parfum“ verzweifelt an seinem Genie, den perfekten Geruchssinn zu besitzen, ist besessen davon, „alles zu besitzen, was die Welt an Gerüchen zu bieten“ hat. „So gehe ich durch das Leben, wie Grenouille“, sagt Wiesner. Minus der Frauen und der Morde, natürlich. Seine Gabe: was die Natur zu bieten hat, in einen Topf zu packen. Und sein Ehrgeiz, immer neue, ausgefallenere Gerichte zu kreieren.
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