"Zeit, sich der Trauer zu widmen"

Großeltern Christine und Johann Stöhr, mit Julia (li.), Martin und Nadine, die das Unglück überlebten.
Den Hinterbliebenen von Unfall- oder Mordopfern helfen Rituale, um ihren Schmerz zu verarbeiten.

Drei Tage vor Allerheiligen feiert Julia ihren sechsten Geburtstag. Für ihre Großeltern und ihre Geschwister ist das ein Grund, sehr bewusst zu feiern. Julia, ihre Schwester Nadine und ihr Bruder Martin haben im vergangenen Mai bei einem verheerenden Zugunfall in Purgstall, NÖ, ihre Eltern und drei Geschwister verloren.

"Wir sind so froh, dass wir die drei haben", betonen Johann und Christine Stöhr. Durch das Unglück wurden die beiden Mittfünfziger wieder in die fordernde Elternrolle für Julia, Nadine, 4, und Martin, 12, katapultiert. Um das zum Teil schwerst verletzte Trio erlebten sie bange Stunden und Wochen.

Natürlich seien Feste wie Allerheiligen, Weihnachten oder Ostern Tage, an denen das Unglück besonders bewusst wird, sagt Christine Stöhr. Den drei psychologisch betreuten Kindern sei klar, dass ihre Lieben nicht mehr zurückkommen.

Grabbesuche

Dennoch, die verunglückte Mutter Anita, 32, Vater Patrick, 26, und die Geschwister Jasmin, 11, Christian, 8, und Sebastian, 7, sind immer präsent.

"Das Grab besuchen wir gemeinsam zwei bis drei Mal in der Woche. Die Kinder haben dort Kerzerl und Engerl hingebracht. Am Allerheiligentag werden wir nach der Messe auch am Friedhofsgang teilnehmen", erzählt Oma Christine.

Auch im Haus sind die Verstorbenen immer dabei. Am Fensterbrett finden sich inmitten von Kerzen, einer Madonna und Engeln ihre Fotos. Fotoalben, auch jene vom Begräbnis, sind sofort zur Hand. Ihr starker Glaube, aber auch die Ablenkung durch die viele Arbeit, helfe ihr dabei, die Tragödie zu verkraften, sagt Christine Stöhr und zeigt Stärke. Und Schlaflosigkeit in der Nacht sei wegen der Müdigkeit selten. Tränen gibt es im Haus dennoch oft.

Jahrelange Therapie

Der Verlust ihrer Tochter Sandra ist drei Jahre her. Für Hilde R. wird der Schmerz gerade jetzt, in der kalten Jahreszeit, stärker. "Ich habe wieder mit einer Therapie angefangen", sagt sie. Zwei Mal pro Woche besucht sie das Grab. Wichtiger als Allerheiligen ist für sie aber der Sterbetag ihrer Tochter. Die 26-Jährige wurde am 22. Oktober 2012 von ihrem Ex-Freund getötet. Er ließ es zunächst wie einen Suizid aussehen, wurde dann aber wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt.

Die Angehörigen wurden vom Gewaltschutzzentrum betreut. Besonders für die Mutter war das eine große Stütze: "Ich war so damit beschäftigt, für die Familie stark zu sein, dass ich meine Trauer verdrängt habe. Die Therapie hat mir geholfen, vieles zu verstehen." Das Wichtigste, das sie gelernt hat: "Man muss akzeptieren, was passiert ist, und weiterleben."

Angehörigen von Opfern von Tötungsdelikten bietet der Weiße Ring in ganz Österreich psychosoziale Betreuung und Prozessbegleitung. "Die Familien haben besonders im Zuge des Strafverfahrens viele Fragen und brauchen Hilfe, ihren Alltag zu bewältigen. Manche melden sich noch Jahre später bei uns", erklärt Dina Nachbaur, Fachbereichsleiterin der Opferhilfe in Wien.

Zu Allerheiligen, an Sterbe- und Geburtstagen reißen alte Wunden wieder auf. "Man ist den Toten nicht verpflichtet, jeden Tag an sie zu denken. Aber es ist wichtig, dass man sich an gewissen Tagen bewusst Zeit nimmt und sich der Trauer widmet", sagt Nachbaur. Wer spontan jemanden zum Reden braucht, dem steht der Opfernotruf des Weißen Rings rund um die Uhr – auch an Feiertagen – zur Verfügung: 0800 112 112

Wenn eine Mutter bei einem Unfall mitansehen muss, wie ihr Kind von der Bestattung weggebracht wird, dann ist ihre Arbeit gefragt: Das Kriseninterventionsteam des Roten Kreuzes kommt dann zum Einsatz, wenn die Ereignisse tragischer nicht sein könnten. „So etwas muss einem liegen. Es geht darum, in einer schwierigen Lebenslage für jemanden voll und ganz da zu sein“, erklärt der Leiter des nö. Kriseninterventionsteams, Hannes Buxbaum.

Menschen in solchen Ausnahmesituationen sind „Passagier auf einem Schiff, dass sie nicht lenken können. Wir sind da, um ihnen dabei zu helfen“, so Buxbaum.

"Zeit, sich der Trauer zu widmen"
Honorarfrei,Krisenintervention,Buxbaum, Leiter NÖ

Es sei schon vorgekommen, dass eine Frau, deren Mann gerade im Wohnzimmer gestorben ist, in der Küche den Abwasch erledigen wollte. „Wenn jemand wegen des Verlustes eines engen Angehörigen schreit und tobt, dann ist das auch okay. Das sind Emotionen, und die gehören heraus.“ Dass solche Personen zur Beruhigung, wie man im Volksmund sagt, „niedergespritzt“ werden, ist laut dem Roten Kreuz ein Ammenmärchen.

Ein wichtiger Teil der Trauerarbeit sei die Anerkennung des tragischen Ereignisses. „Nur wer begreift, was da jetzt passiert ist, kann damit auch umgehen“, erklärt Buxbaum. Zur Akuthilfe zählt auch, mit Angehörigen die passende Kleidung für das Begräbnis auszusuchen.

Kommentare