Historische Stolpersteine: Wo es Wien an Barrierefreiheit mangelt
Philipp Hochenburger beschleunigt seinen Rollstuhl mit kraftvollen Armbewegungen. Er beherrscht sein Hilfsmittel zu 100 Prozent. Kein Wunder, der 37-Jährige ist Nationalspieler im Rollstuhlbasketball.
Und dennoch: in der Kurrentgasse Richtung Judenplatz, mitten in der prunkvollen Wiener Innenstadt, muss er sich plagen. Auf dem historischen Kopfsteinpflaster schüttelt es Rollstuhl und Fahrer bei jeder Radumdrehung kräftig durch.
„Ich will selbstständig sein, die Stadt genießen und nicht daheim in die Luft schauen“, sagt Hochenburger, der seit einem Unfall mit 16 Jahren querschnittsgelähmt ist. Am Stadtleben teilzunehmen, sei für Menschen mit Behinderung nicht einfach. Deshalb engagiert sich der Rollstuhlfahrer im Rahmen der Neos-Kampagne „Barrierefrei im Ersten“. Dabei wurden ein Jahr lang Probleme von mobilitäts-, seh- oder hörbeeinträchtigten Menschen gesammelt.
Bei Bezirksbegehungen konnten Betroffene auf Hürden hinweisen. Diese sind, wie sich bei einem KURIER-Lokalaugenschein zeigt, mannigfaltig. Neben Hochenburger nutzte Wolfgang Kremser vom Verein „Blickkontakt“, der sich für blinde und sehbehinderte Menschen einsetzt, die Möglichkeit, innerstädtische Stolpersteine aufzuzeigen. Der 70-Jährige ist auf seinen Blindenstock angewiesen. Damit ertastet er seine Umgebung.
Die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen ist in Österreich verfassungsrechtlich garantiert. Trotzdem sehen sich Betroffene immer wieder Benachteiligungen ausgesetzt. Der Behindertenanwalt des Bundes kann helfen: 0800/808016
25 Prozent der österreichischen Bevölkerung zwischen 15 und 89 Jahren in Privathaushalten sind bei Aktivitäten im Alltag gesundheitsbedingt etwas oder stark eingeschränkt und gelten somit als behindert.
„Für Blinde gibt es zwei Möglichkeiten. Das Leitsystem (tastbare Bodenindikatoren, Anm.) oder sich entlang von Hausmauern zu orientieren. Dafür dürfen dort aber keine Hindernisse stehen.“ Richtung Judenplatz gibt es weder ein Leitsystem, noch sind die Mauern frei von Barrieren. Pflanzentröge und Straßenschilder machen die Strecke für den Pensionisten zum Spießrutenlauf. Er ist es gewohnt, rücksichtslos abgestellte E-Scooter und ausladende Schanigärten gehören zu seinen täglichen Hindernissen.
„Eine blinde Person hat hier alleine keine Chance“, ärgert er sich. Es werde gerne auf Sehbehinderte vergessen, findet er. Und selbst wenn bei Umbauten Leitsysteme nachgerüstet werden, heiße das für Blinde nicht „freie Fahrt“. Unlängst sei er mit einem Baugerüst auf den Leitlinien konfrontiert gewesen, erzählt Kremser, während er – mittlerweile am Hohen Markt angekommen – einen Slalom um Würstelstand, Mistkübel und Ampel meistert.
„Ich baue auch keine Autobahn und lege Steine drauf“, zeigt er sich fassungslos über die Ignoranz mancher Menschen und Betriebe. Diese ist auch Hochenburger ein Dorn im Auge. Als Beispiel nennt er die hohen Stiegen vieler Luxusgeschäfte im Goldenen Quartier. „Die Stufe im Eingangsbereich sollte maximal drei Zentimeter hoch sein. Da kommt fast jeder Rollstuhlfahrer rauf.“
„Will kein Armutschkerl sein“
In der Praxis sieht das anders aus, obwohl das Behindertengleichstellungsgesetz derartiger Diskriminierung einen Riegel vorschieben sollte. Dass man ihm auf Nachfrage in die Geschäfte helfen würde, bestreitet er nicht. Doch darum gehe es nicht: „Ich will kein Bittsteller und ein Armutschkerl sein.“
Andrea Dobida, stellvertretende Bezirkssprecherin der Neos im Ersten, stimmt zu: „Barrierefreiheit ist unverzichtbar, sie ermöglicht soziale Teilhabe.“ Sechs Anträge wurden deshalb im Zuge der Kampagne bei der Bezirksvertretungssitzung eingebracht. Sie zielen vor allem auf eines ab: Menschen, die es ohnehin schon schwer haben, den Alltag leichter zu machen (siehe rechts).
So sollen im Zentrum die Barrieren schwinden
Mehr Barrierefreiheit im ersten Bezirk hilft laut Neos nicht nur Menschen mit Behinderung. Profitieren würden rund 50 Prozent der Bevölkerung. Gemeint sind etwa Personen mit Kinderwagen, Lieferanten, Sanitäter oder Verletzte. Deshalb wurden in den vergangenen Monaten sechs Anträge in der Bezirksvertretungssitzung eingebracht.
Dabei ging es unter anderem um die Beschilderung und Verbesserung der Barrierefreiheit von WC-Anlagen, die Gehsteigsanierung am Bauernmarkt, den Abbau der Gefahrenstellen im Ruprechtsviertel oder mehr Mittel für Barrierefreiheit aus dem Bezirksbudget. Die Mittelaufstockung wurde bereits einstimmig angenommen.
Von der stellvertretenden Bezirksvorsteherin Patricia Davis (ÖVP) hieß es zudem unlängst, dass die Ausschilderung barrierefreier Toiletten im Bezirk bereits in Auftrag gegeben worden sei. Das Problem bisher: Öffentliche WC-Anlagen in der Innenstadt sind ohnehin schon selten. Folgt man dann den Beschilderungen, kann es sein, dass man bei der Pestsäule ankommt und feststellt, dass die Toiletten unterirdisch und nur via Treppe zugänglich sind.
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