Was das Riesengrafitto am Gemeindebau mit São Paulo zu tun hat

Neben der Gürtelbrücke tauchte über Nacht ein Schriftzug auf.
Deshalb sieht der schwarze Schriftzug auf einem Brigittenauer Hochhaus so anders aus als die Graffiti am Donaukanal.

Wer über die Gürtelbrücke in die Brigittenau fährt, kann sie nicht übersehen: Die sechs schwarzen Buchstaben, die seit gut zwei Wochen einen 13-stöckigen Gemeindebau zieren. Sie ergeben das Wort „Ikarus“ – entziffern lässt sich das aber erst auf den zweiten Blick.

Die atypische Form der Lettern macht den Schriftzug nicht nur schwer lesbar, sondern hebt ihn  auch von den in Wien gewohnten Graffiti ab. Der KURIER erklärt, was dahinter steckt.

Was ist das für ein eigenartiger Graffiti-Stil?

Ikarus steht für den Künstler-Namen eines Mitglieds des deutschen Kollektivs Berlin Kidz. Der Stil ist angelehnt an die Graffiti-Richtung namens Pichação, die sich ab den 1980ern ausgehend von São Paulo in Brasilien verbreitete. 

Album-Cover der damals populären Heavy-Metal-Bands mit ihren runenartigen Symbolen sollen frühe Vertreter inspiriert haben. „Die Berlin Kidz haben diese Art des Malens in Europa eingeführt“, sagt der Kunsthistoriker und Graffiti-Experten Stefan Wogrin.

Laut dem Guardian gibt es heute allein in São Paulo über 5000 Pichação-Künstler. Während sich die einen an Garagentoren zu schaffen machen, stecken sich  andere höhere Ziele.

Sie erklettern Hochhaus-Fassaden, um diese zu besprühen. Eines haben sie gemeinsam: Ihre Werke sind Ausdruck von Wut über soziale Ungleichheit.

Wer sind die Berlin Kidz?

Eine um 2010 gegründete Gruppe waghalsiger Graffiti-Künstler. Ihre Aktionen sind weder legal noch ungefährlich: Sie spielen auf fahrenden U-Bahnen Fußball oder seilen sich mit der Spraydose in der Hand von Hochhäusern  oder Windrädern ab.

Wien sei entspannt und gut geeignet für solche Aktionen“, erklärt Ikarus auf KURIER-Anfrage. „Die Bewohner scheinen so etwas zu verstehen.“ Eine spezielle Botschaft stehe nicht hinter seinem Werk am Gemeindebau.

„Mir geht es vor allem darum, Spaß zu haben, Freiheit zu leben“, sagt er.

Die Fans scheinen diese Einstellung zu mögen: Die Berlin Kidz verzeichnen in den sozialen Medien, wo sie Videos von ihren Aktionen teilen, Tausende Fans.

Einzelne Protagonisten der Gruppe vertreiben von ihnen gestaltete Siebdrucke, Masken und Pullover. Ikarus stellte unlängst sogar in einer Wiener Galerie aus: Oxymoron in der Burggasse zeigte im Dezember seine Arbeiten.

Was das Riesengrafitto am Gemeindebau mit São Paulo zu tun hat

Ikarus stellte der Wiener Galerie Okymoron Arbeiten auf Papier zur Verfügung.

Gibt es solche Graffiti in Wien nicht schon wo?

Im Sommer sorgte ein mutmaßliches Berlin-Kidz-Graffito am Schwendermarkt für Aufregung: „Unbekannte“ hätten ein Wohnhaus mit „eigenartigen Symbolen beschmiert“, schrieb etwa die Kronen Zeitung.

Experte Wogrin rechnet  den Schriftzug den Berlin Kidz zu. Am Richard-Waldemar-Park in Mariahilf und an der Linken Wienzeile habe das Kollektiv ebenfalls Hand angelegt.

Was das Riesengrafitto am Gemeindebau mit São Paulo zu tun hat

"Eigenartige Symbole"....

... auf einem Wohnhaus am Schwendermarkt in Rudolfsheim-Fünfhaus.

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Ziel Gemeindebau

Ikarus besprühte auch schon einen Gemeindebau an der Linken Wienzeile.

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An der Linken Wienzeile gibt es zweites Gebäude mit Berlin-Kidz-Graffito.

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Verschwunden

Die Berlin Kidz verewigten sich neben Schmetterling-Graffiti auf einem Haus beim Richard-Waldemar-Park. Mittlerweile ist das Graffiti verschwunden, der Verein Stadtschrift stellt auf der Mauer nun historische Fassadenbeschriftungen aus.

Betreiben auch Wiener Sprayer Pichação?

Einzelne ja, vermutet Wogrin.  Darauf deute etwa ein Graffito am Steinitzsteg hin, das an den Stil der Berliner erinnere.

Was das Riesengrafitto am Gemeindebau mit São Paulo zu tun hat

Der Graffiti-Experte glaubt, am Steinitzsteg Nachahmer ausgemacht zu haben.

Dass sich nun weitere Nachahmer finden, bezweifelt er allerdings: „Das Abseilen ist hier noch nicht angekommen. Die Wiener sind dafür zu gemütlich.“

Ikarus kann das nur recht sein. „Ich will Pichação in Wien etablieren, gleichzeitig möchte ich aber nicht, dass das jemand anderes auch macht. Die Wiener sollen lieber bei ihrem Standard-Graffiti bleiben.“

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