Seestadt Aspern: Ärger im Paradies
Der typische Seestädter Konflikt ist ein Nachbarschaftskonflikt. Zum Beispiel der darüber, ob man die illegal ausgesetzten Kois im See füttern soll – oder nicht.
Die Seestadt ist kein hartes Pflaster. Kagran ist bekannt für seine Schlägereien. Favoriten. Und vielleicht auch Ottakring. Aber nicht die Seestadt. Dort verlassen die Kinder mit Schwimmflügerln an den Armen das Haus, weil sie entweder in den See vor dem Haus oder in den Pool nebenan hüpfen.
Und trotzdem ist genau dort etwas passiert.
Romana und Selina hat das überrascht. Die beiden 18-Jährigen sitzen am Schotterstrand des Seestadt-Sees, die Schokobutterkeks von der Diskontmarke noch ungeöffnet, die Schinkelfleckerl von der Mama schon fast verputzt.
Das Prügel-Video, das vergangene Woche an die Öffentlichkeit geraten ist, kennen sie – natürlich. Ihr Freund Sebastian, mit dem sie zum Baden gekommen sind, hat es auf seinem Instagram-Account gespeichert.
„Hast du was gegen Seestadt-Kinder?“ fragt einer in dem Video. Dann schlagen zwei Leute zu – zuerst mit den Händen auf den Kopf, als das Opfer hinfällt und auf dem Boden liegen bleibt, treten sie mit den Füßen gegen den Kopf. „Sag noch ein Wort“ drohen sie. „Sag’ noch einmal was und du wirst sterben.“
Wie die Polizei weniger später mitteilt, handelt es sich bei den jugendlichen Angreifern um einen Bub und ein Mädchen. Beide sind erst 13 Jahre alt – und amtsbekannt. Ebenso wie der dritte im Bunde, der die Szene mit dem Handy mitgefilmt hat. Die Polizei spricht von „sozial- und integrationspolitischen Fehlentwicklungen“.
Die Attacke auf den 15-Jährigen wurde just zwei Tage nach einer Auseinandersetzung zweier Jugendgruppen in der U-Bahn-Station Seestadt bekannt. Am Pfingstsamstag hatten sich dort Burschen zu einer „Aussprache“ getroffen, ein Schreckschuss ist gefallen. Und gestern, Freitag, drohte jemand auf Twitter, in der Seestadt „alle umzubringen“.
„Nicht negativer“
Ist das Vorzeige-Wohnprojekt also zum Problemviertel geworden? „Nein“, heißt es von der Polizei. Die Seestadt sei nicht negativer aufgefallen wie andere „Örtlichkeiten“. Genaue Zahlen zur Kriminalität will man aber nicht bekannt geben.
Auch der Bezirksvorsteher des 22. Bezirks, Ernst Nevrivy (SPÖ), sagt: In der Seestadt gibt es kein Sicherheitsproblem. Nie sei dort etwas passiert. „Aber wenn ein Mal etwas vorfällt, ist die Aufregung groß.“
Das stimmt – und hat auch einen Grund: Die Seestadt ist das Prestigeprojekt des Roten Wien. Sie ist Wiens größtes Stadtentwicklungsgebiet. Ab 2010 wurde gebaut, im September 2014 sind die ersten Bewohner eingezogen. Aktuell leben dort laut Stadtforscherin Cornelia Dlabaja von der Universität Wien exakt 8.316 Menschen. Dlabaja erforscht die Seestadt seit deren Bestehen und hat für ihre Forschung sogar dort gewohnt - und etwa den eingangs erwähnten Koi-Konflikt entdeckt. Laut Dlabaja ist der Anteil der unter Zehnjährigen ist überproportional hoch: Die Seestadt soll die ideale Wohngegend sein – vor allem für Familien mit Kindern.
Die Stadt hat beim Bau penibelst auf alles geachtet: genügend Grünflächen, wenig Verkehr, belebte Erdgeschoßzonen – und vor allem soziale Durchmischung. In der Seestadt gibt es Gemeindewohnungen, geförderten Wohnbau, Wohnungen für finanziell schwächer Gestellte und bald auch Luxus-Wohnungen. Bis die Seestadt fertig gebaut ist – das wird im Jahr 2028 sein – werden dort 20.000 Menschen leben und weitere 20.000 arbeiten.
Fehler, die der Stadt beim Bau anderen Riesen-Wohnprojekte unterlaufen sind, dürfen sich in der Seestadt nicht wiederholen. Dort darf kein Wohnghetto entstehen, wie das etwa am Rennbahnweg passiert ist. Dort darf es keine unbelebten Zonen geben, wie das etwa im Sonnwendviertel eine Zeit lang der Fall war.
Die Seestadt muss perfekt sein.
Prügel-Videos passen da nicht ins Bild.
Gleich nach Bekanntwerden des Videos berief der Bezirksvorsteher einen Runden Tisch ein – mit Polizei, Stadtteilmanagement, Jugendbetreuung. Am Ende des Telefonats mit dem KURIER bittet er: „Schreiben S’ ma die Seestadt net runter, bitte.“
Im Fokus
Denn bei der Seestadt geht’s um etwas. Seit sie besteht, ist sie immer wieder im Fokus der Öffentlichkeit. Etwa, als die Bewohner bei der Gemeinderatswahl im Jahr 2015 in zwei ihrer drei Wahlsprengel mehrheitlich die FPÖ gewählt hatten. Ein rotes Vorzeigeprojekt, das alle Stückln spielt und dann wählen die Bewohner blau?
Die Seestadt polarisiert – seit jeher. „Für die Anhänger der FPÖ ist sie ein Ghetto, von den politisch Linken wird sie heilig gesprochen“, sagt ein Familienvater, der an diesem heißen Nachmittag mit Frau und Kindern am See baden ist. Seit 2015 wohnt die Familie in der Seestadt – und weil man sich hier eben kennt, wollen er und seine Frau lieber nicht namentlich erwähnt werden. Die Familie lebt gerne in der Seestadt.
Dort sei es „super“ für die Kinder, das Leben sei ein bisschen wie im Dorf: Man kennt einander, man hilft einander. Verunsichert sei man wegen der Vorfälle nicht. „Die Seestadt ist nicht heiliger, nur weil sie die Seestadt ist“, sagt eine Bekannte der Familie, die sich mit Badetuch dazugesetzt hat.
„Ich werde oft gefragt, warum ich genau da hergezogen bin“, sagt der Papa in Badehose. In diese künstliche Siedlung, quasi am Ende der Welt. „Da fühlt man sich als Bewohner schon ein bissl angegriffen.“
Wer in der Seestadt wohnt, identifiziert sich mit ihr. Schließlich sind die, die dorthin gezogen sind, Pioniere einer noch nie da gewesenen Wohnform. „Ich kann schon nachvollziehen, dass Identifikation vielleicht bei den Jugendlichen in dem Video auch ein Thema war. Aber Erwachsene verdreschen sich halt deswegen nicht gleich.“
Anziehungspunkt
Für Jugendliche ist die Seestadt längst zu einem Anziehungspunkt geworden. Nicht für jene, die dort wohnen – davon gibt es ja noch nicht allzu viele – von überall kommen sie in die Seestadt. Ihr Platz ist von der U-Bahn kommend auf der rechten Seite des Sees, wo noch keine Bäume gepflanzt, aber Unmengen an Schotter aufgeschüttet wurden.
Wiener, Somalis, Araber. Die einen hören Techno, die anderen arabische Musik. Seit vor einigen Jahren Menschen im See ertrunken sind, kontrollieren Securityleute jeden Abend das Gelände. Ab 20 Uhr darf nicht mehr gebadet werden, ab 22 Uhr müssen alle weg.
Romana und Selina ist jedenfalls lieber, dass jemand da ist, der aufpasst. „Heutzutage hast schon eine picken, wennst wen nur schief anschaust“, erzählen sie. Nicht in der Seestadt, generell in Wien. Wer um eine „Tschick“ angeschnorrt wird, aber keine hat, würde mit großer wahrscheinlich mit einem blauen Auge aussteigen. Die Brutalität des Seestädter Prügel-Videos verwundert sie deshalb nicht.
Eine „tendenzielle Verrohung bei Jugendlichen“ kann Christian Holzhacker, Bereichsleiter für den 22. Bezirk im Verein Wiener Jugendzentren, nicht feststellen. Auch „Jugendbanden“ gebe es in der Seestadt keine. Maximal rivalisierende Gruppen – und die gebe es in dem Alter überall. „Gesamtgesellschaftlich betrachtet“ sei die Stimmung aktuell aber „sehr konfrontativ“.
Die Polizei zieht wegen der Vorfälle verstärkt ihre Runden in der Seestadt. In Bussen fahren sie an diesem Abend zu fünft Streife und kontrollieren die Ausweise von jungen Leuten, die sich in größeren Gruppen aufhalten. „Ich nehme an, der Grund für die verstärkten Kontrollen ist bekannt“, sagt ein Polizist, als er von junger Männern die Ausweise verlangt. Sie nicken und zeigen brav ihre Ausweise her – dann fahren die Polizisten weiter, zur nächsten Partie junger Leute.
Infos und Zahlen
Das Areal der Seestadt Aspern am Rande des 22. Wiener Gemeindebezirks ist 240 Hektar groß und damit nicht nur Wiens größtes Stadtentwicklungsprojekt, sondern auch eines der umfassendsten in Europa. 2010 wurde mit dem Bau der Wohnhäuser begonnen. 8.316 Personen leben aktuell dort. Bis 2028 sollen es 20.000 sein. Der namensgebende See in der Mitte des Areals ist fünf Hektar groß.
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