Verlockend bunt ist das Angebot im lückenlos gefüllten Regal. Buchweizen, schachtelweise importiert, „weil es diese Sorten in Österreich nicht gibt“, sagt Olessia. Besserer Wodka, Kaviar für den festlichen Anlass, Gurken im Glas oder Pralinen, alles „nach unserem Geschmack.“ Ihre Kundschaft ist russischer, nicht selten ukrainischer Herkunft. Ausgewanderte, Geflüchtete, Menschen, die hiergeblieben sind, aus privaten oder beruflichen Gründen, auch „Österreicher, die einfach unsere Kultur lieben gelernt haben.“
In der Auslage erfüllen schmunzelnde Matrjoschka-Puppen die folkloristische Erwartung. Doch von der Aufschrift Russische Spezialitäten hat ein schwarzes Klebeband nur noch ... Spezialitäten übrig gelassen. Hinter Glas ist ein Zettel angebracht. Kein Offert, eher ein Ausdruck der Verzweiflung, und doch ein klares Statement: „NO WAR“.
Ob es nicht viel Mut und noch mehr Widerstandskraft verlange, solche Aussagen offen zur Schau zu stellen? Ihrem Gesichtsausdruck der Verwunderung entspricht Olessias Antwort: „Es ist doch normal, gegen den Krieg zu sein. Wie er ausgebrochen ist, habe ich das auch auf Facebook gepostet. Daraufhin wurde ich von einer Frau, die hier in der Nähe wohnt, aufgefordert, mein Geschäft zu schließen. Ich habe sie gefragt, warum sie eigentlich nicht in Russland lebt, wenn sie so eine Patriotin und für Putin ist.“ Verlogen sei das.
Überhaupt vermeidet sie, die Gesinnung ihrer Kundschaft zu hinterfragen. „Ich will nicht wissen, wer diesen Krieg verteidigt. Ich habe Angst, so etwas zu hören.“ Nach Russland reiste Olessia zuletzt nur noch, um ihre 89-jährige Mutter zu sehen. Das wird irgendwann vorbei sein, „ich wüsste dann keinen Grund mehr, warum ich dorthin fahren sollte“. Und ihr Bruder? „Der glaubt so ziemlich alles, was die russischen Medien verbreiten.“
Vor drei Jahrzehnten hat Olessia Russland verlassen. Der Zerfall der Sowjetunion befriedigte das längst grenzenlos gewordene Bedürfnis, die Welt zu sehen. Wien? Auf dem Weg in die USA eigentlich nur ein Warteraum. Aber das Visum zu bekommen, dauerte lange. Zu lange.
Imageprobleme
Seit 20 Jahren bietet sie im 1. Bezirk ihre Waren an, nennt das Angebot jetzt „nostalgische, vielleicht Ost-Spezialitäten. Oder so ähnlich“. Jedenfalls Lebensmittel aus einem Kulturkreis, der hierzulande ohnehin oft mit einem Vorurteil behaftet war, der Begriff „russisch“ mit der Tendenz zur provisorischen bis brachialen Problemlösung verbunden wurde. Historisch befeuert von der Besatzungszeit nach dem Zweiten Weltkrieg, der Angst vor dem „kommunistischen Ungeheuer“ hinter dem Eisernen Vorhang. Mit der Perestroika kam die kurzfristig einsetzende Imagekorrektur, die Russland zumindest als „exotische Neuentdeckung“ gelten ließ. Danach? Es begann das Drama der zerstörten Hoffnungen mit Wladimir Putin in der Rolle des aggressiven Hauptdarstellers.
Historischer Zwiespalt
Das Dilemma beschreibt der deutsche Osteuropa-Historiker Karl Schlögel in seinem Buch Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt: Für die einen sei die „russische Welt“ die Chance einer Wiedergewinnung der Spannung einer Kultur, die durch Gewalt und Exil“ zerstört worden war, für die anderen – vor allem staatliche Fernsehkanäle und Kulturapparate in Putins Russland – bedeute die „russische Welt“ jetzt alt-neue Herrschaftsansprüche, die auch mit Gewalt durchgesetzt werden, „wie die Aggression gegen die Ukraine zeigt“.
Fernab, trotzdem hautnah mit der Situation konfrontiert, sind jene Menschen, die in Russland geboren wurden oder dort ihre Wurzeln haben, weiter familiäre und freundschaftliche Kontakte pflegen. Von konträren Ansichten werden Gefühlswelten zerrissen, der Pauschalisierung ausgesetzt, oder Jahrzehnte lange russisch-ukrainische Beziehungen plötzlich auf die Probe gestellt. Von Anfeindungen wird in Sozialen Netzwerken fallweise berichtet. Selten sind offene Konflikte, auffällige Tendenzen in behördlichen Aufzeichnungen gar nicht dokumentiert. Scham, zumindest Zurückhaltung, Vermeidung von Meinungsbekundungen bestimmen die Situation. So erzählt Olessia von einer Freundin, die mit ihrem Partner – beide erklärte Putin-Gegner – in Österreich mit der gegensätzlich denkenden Mutter unter einem Dach wohnen.
Die von Statistik Austria veröffentlichten Zahlen dokumentieren die kriegsbedingte Fluchtbewegung: Am Beginn dieses Jahres lebten 79.572 Ukrainer und 35.571 Russen in Österreich. Vor dem Überfall ergab die Zählung noch eine klare russische Mehrheit. Im Verhältnis 3:1.
„Kaum jemand, der hier lebt, will den Krieg kommentieren. Man fürchtet die Gefahr der Verallgemeinerung. Aber ich weiß, es gibt Spendenaktionen von Russen für Ukrainer“, erzählt Nikolai Krinner. Der 38-jährige Wiener Jungunternehmer ist Sohn einer Russin und eines Österreichers.
Er kennt beide Welten, drei Jahre lang hat er in Moskau gearbeitet. Oft war er dort, um die Mutter zu besuchen, zumindest einmal wöchentlich hat er mit ihr Kontakt. „Sie ist eine weltoffene Frau, war lange in Deutschland, weiß, was Berichte im russischen Staatsfernsehen bedeuten und glaubt dem Apparat kein Wort. Reagiert wird mit Distanz. Denn erlebt haben die meisten Russen schon verdammt viel in den letzten Jahrzehnten. Sogar, dass Panzer auf das eigene Parlament geschossen haben.“
Vermittlerrolle
Kein einfaches Unterfangen, Menschen mit russischem Hintergrund zu finden, die sich zum Thema äußern wollen. Fedor Poljakov war erst 22, als ihn sein Weg 1981 zunächst nach Deutschland führte. Jetzt ist er Professor am Institut für Slawistik an der Uni Wien. Dem Thema Krieg und Russlands brutalem Erscheinungsbild setzt er neue Vermittlungsstrategien entgegen, um die Gefahr der Verallgemeinerung einzudämmen. Darüber zu reden, wühlt in Poljakovs Emotionen. Nach dem Gespräch entscheidet er sich, einem Nachdenkprozess eine zusammenfassende „schriftliche Stellungnahme“ folgen zu lassen.
Am Institut entfallen heftige Auseinandersetzungen zwischen Vertretern der einzelnen slawistischen Studienrichtungen. Der Dialog steht im Vordergrund, das Bemühen, „die tatsächlichen Bewegungen unter der Oberfläche nachzuzeichnen.“ So wie es in Zeiten des Jugoslawien-Kriegs versucht wurde und auch gelungen ist.
Krisenzeiten verlangten nach fundierter Expertise, und Österreich habe wegen seiner politischen und eben kulturellen Vermittlerrolle steigenden Bedarf, erklärt der Professor.
Für Kopfschütteln sorgte eine Radio-Sendung, die aufgeregt vom plötzlichen Schwund an Russisch-Studenten berichtete. „Der Anstieg von Lehramtsstudierenden im Fach Russisch zeigt ein völlig anderes Bild“, berichtigt Poljakov. Die universitäre Situation gebe gar keinen Anlass, groteske und tendenziöse Bilder vom Untergang und Zerfall einer Fachrichtung zu zeichnen, „die sich kritisch und übergreifend mit Sprache, Literatur und Kultur der Russischsprachigen quer über den Globus auseinandersetzt.“
Betroffenheit
Die in Russland geborene Wiener Schriftstellerin Ljuba Arnautović hat sich in ihren Romanen ausführlich mit russisch-ukrainischen und österreichischen Verflechtungen befasst. „Im Verborgenen“, ihr erstes Werk, wird gerade unter der Regie von Goran Rebić, verfilmt. Reichhaltig sind ihre Erzählungen von Aufenthalten und ihrem Leben in Moskau, von ihrer aus Kursk stammenden Mutter, vom Vater, der in den 1930er-Jahren von Wien in ein Moskauer Jugendheim kam („Junischnee“), danach im Gulag landete.
Über ihren ukrainischen Ehemann, den sie in Moskau geheiratet hat, der als sportlich talentiertes Kind im Zuge des Ausleseverfahrens der UdSSR in ein russisches Sportinternat geholt worden war. Tief schürfende Geschichten aus der eigenen Vergangenheit, die bis in die Gegenwart ihre Wirkung tun.
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