Von Tokio nach Wien: Eine Japanerin siedelt nach Österreich
Wer schon einmal in Tokio war, wird wohl an die riesigen, aber stets geordneten Menschenmassen denken, das unglaublich weitläufige U-Bahn-Netz, die beeindruckenden Hochhaus-Landschaften … Wien wirkt dazu im Vergleich fast schon putzig. Das Leben hier ist anders, das Tempo ebenso.
"Wollte einen ganz anderen Teil der Welt kennenlernen"
Nozomi Nakadate kann das bezeugen. Die 36-Jährige lebt seit 2016 in Wien. Als sie sich vor acht Jahren entschloss, ihre Zelte in der Millionenmetropole Tokio abzubrechen und nach Österreich zu gehen, war es für sie ein absoluter Sprung ins kalte Wasser.
Wie es zu der Entscheidung kam? "Das ist eine gute Frage!," lacht Nakadate im Gespräch mit dem KURIER. "Ich war damals schon Ende 20 – ich habe zu mir gesagt, dass dieses Alter realistisch wohl meine 'letzte Chance' ist, um ins Ausland zu gehen. Ich wusste, dass ich so eine Herausforderung nicht wagen würde, sobald ich mal über 30 bin. Und ich wollte unbedingt noch einen anderen Teil der Welt kennenlernen, der ganz anders ist als Japan."
Dass es ausgerechnet Wien wurde, kam durch den Einfluss einer österreichischen Freundin in Tokio. Für Nakadate bedeutete der Umzug nicht nur ein neues Leben in einem fremden Land, sondern auch eine Rückkehr an die Uni. "Ich hatte in Japan bereits einen Vollzeit-Job im Marketing, wollte aber noch ein Studium im Ausland machen. Das große Problem war natürlich, dass ich gar kein Deutsch konnte. Sprich, ich musste hier zuallererst in eine Sprachschule gehen. Erst danach habe ich mit dem Studium an der Universität Wien begonnen."
Schwieriger Anschluss
Also wurde zuerst intensiv Deutsch gepaukt, anfangs in einer privaten Sprachschule in Wien, anschließend am Sprachinstitut der Uni. Nach einem halben Jahr inskribierte sich Nakadate schließlich für einen Master in Geschichte, mit Schwerpunkt auf Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Der Unterricht war nahezu ausschließlich auf Deutsch.
Neben der Sprachbarriere war auch das Universitätssystem hierzulande, das sich gänzlich vom japanischen unterscheidet, eine große Herausforderung. "Das Administrative dauert in Österreich viel länger als in Japan. Wenn auf der Uni beispielsweise ein Zeugnis ausgestellt werden soll, wartet man hier bis zu einem Tag oder länger. In Japan bekommt man das in drei Minuten."
Auch der Anschluss zu ihren Mitstudierenden fiel der Japanerin schwer, oft kämpfte sie in Wien mit Einsamkeit. Dennoch zog sie das Studium bis zum Ende durch – auf ihre diversen Seminararbeiten, die sie komplett auf Deutsch verfasst hat, ist sie heute noch stolz.
Von Sauberkeit und Sonntagsöffnungen
In einer Sprach-Tandem-Gruppe für Deutsch und Japanisch lerne Nakadate etwas später ihren heutigen Mann kennen, mit dem sie mittlerweile einen dreijährigen Sohn hat. Der kleine Hiroki wächst zweisprachig auf, Nakadates Mann – selbst gebürtiger Deutscher – hat von Anfang an nur Deutsch mit ihr gesprochen.
Die Familie möchte auf jeden Fall in Wien bleiben – auch wenn es so manche Dinge gibt, die Nakadate hier vermisst. "Die Sauberkeit in der Stadt etwa. Viele Leute sagen, wenn sie Japan einmal besucht haben, wie unglaublich sauber es dort ist, besonders in Tokio. Und das stimmt. Obwohl Tokio so viel Bevölkerung hat, ist es sehr sauber dort. Etwa die Toiletten in den Bahnhöfen und Zügen … das ist in Österreich vergleichsweise doch schlechter."
Auch einige kleine Dinge des Alltags waren für die Japanerin in Wien eine große Umstellung – und sind es mitunter immer noch. Etwa, dass die Geschäfte am Sonntag nicht offen haben. Oder dass die Menschen hier auf der Straße rauchen – in Japan ein undenkbares Benehmen.
Wenig überraschend werden Höflichkeit und Freundlichkeit in ihrer Heimat generell deutlich größer geschrieben. Spätestens bei ihrem ersten Besuch bei der MA35 (Einwanderung und Staatsbürgerschaft) bekam Nakadate das zu spüren: "Die Beamten dort waren leider sehr unfreundlich. Das war damals in der Situation ziemlich belastend für mich. Die Angestellten auf Ämtern in Japan sind in der Regel deutlich freundlicher."
Hilfsbereites Wien, Oida!
Im Gegensatz dazu übertreibt es ihre Heimat aber oft mit der Zurückhaltung. Nakadate schildert dem KURIER etwa das Beispiel öffentliche Verkehrsmitteln: In Japan würden Leute nur selten von alleine auf die Idee kommen, einer Mutter mit Kinderwagen beim Einsteigen in die U-Bahn zu helfen. Die Wienerinnen und Wiener hingegen packen gerne ungefragt mit an. "Das ist ein großer Vorteil hier, der wohl auch kulturell bedingt ist. In Japan sind viele Menschen oft so gehemmt, dass sie in solchen Situationen schüchtern sitzen bleiben. Dieser 'natürliche' Antrieb, Fremden zu helfen, ist dort nicht so ausgeprägt wie hier. Die Menschen in Österreich sind in dieser Hinsicht offener, das mag ich sehr."
Was ihr in Wien sonst noch besonders gefällt? Ohne nachzudenken antwortet Nakadate: "Das Leitungswasser! Zum Trinken und Kochen ist das Wasser hier großartig. In Tokio bzw. anderen großen Städten in Japan ist das Wasser auch trinkbar, aber es schmeckt leider oft nach Chlor."
Arbeiten in Österreich: Mehr Work-Life-Balance als in Japan
Auch schätzt sie es, dass die Menschen in Österreich "viel lockerer" seien, insbesondere im Arbeitsalltag. Nakadate arbeitet seit Anfang 2023 in der österreichischen Landesgesellschaft von TÜV Süd und ist dort für die Organisation von Seminaren und Schulungen zuständig. Blickt sie auf ihren Job in Japan zurück, freut sie sich in Wien über die angenehmere Work-Life-Balance – insbesondere als Mutter eines kleinen Kindes. "Wenn ich Freundinnen oder ehemaligen Kolleginnen in Tokyo von meinem jetzigen Arbeitsumfeld erzähle, geraten sie ins Schwärmen. Gerade für Mütter ist es hier viel besser."
Da auch ihr Mann kein gebürtiger Österreicher ist, lebt Nakadate mit einer Aufenthaltskarte in Wien. Nächstes Jahr muss sie dafür einen neuen Antrag stellen – dieser soll dann für weitere zehn Jahre gültig sein. Die Sprache des Landes zu können sei unabdingbar für ein zufriedenes Leben, findet die Japanerin. Auch der Wiener Dialekt ist ihr längst ans Herz gewachsen. "Meine Chefin meinte neulich zu mir, ich sage so oft 'Oida!' Das Wort mag ich sehr, man kann es in so vielen verschiedenen Situationen verwenden. Sehr praktisch."
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