"Im Siebten": Ein Spaziergang durch das Testlabor
Mit 26 Jahren zog Tarek Leitner von Linz nach Wien. Und seit 15 Jahren sind er und seine Familie „im Siebten“, wie man Neubau auf Wienerisch auch bezeichnet, zu Hause.
„Weg möchte ich hier nicht mehr“, erzählt der 50-Jährige im Gespräch mit dem KURIER. Alles, was hier im Kleinen passiere, könne man im Großen auch in einer Stadt vielleicht in der Zukunft sehen, meint er. Der 7. Bezirk sei ein Testlabor.
Beim Spaziergang durch das Grätzel macht er Halt auf einen Kaffee bei Nachbar und Freund Peter Coeln. Der Fotomuseum-Chef ist auch Fotograf des eben erschienenen Buches „Im Siebten“. „Für mich war klar, dass ich in den 7. Bezirk ziehen musste, mein altes Fotostudio ist das heutige Westlicht“, sagt Coeln. Gegenüber des Museums war damals die Graphische Bundeslehranstalt. „Fotografen studierten hier und zogen her.“
Gemeinsam mit dem ehemaligen Leopold-Museum-Direktor Peter Weinhäupl wurde die Buchidee vor zwei Jahren geboren. „Vergleichbar mit dem 7. Bezirk ist nichts“, sind sich Leitner und Coeln einig. „Kreuzberg in Berlin oder der Naschmarkt vielleicht“. Das Leben in Neubau habe sich jedenfalls auf die Straße verlagert. Und für das Buch haben sie sich auf Entdeckungsreise begeben.
„Der politisch grüne Bezirk hat ja fast kein Grün, aber wir haben Oasen in Hinterhöfen gefunden“, sagt Coeln. Auch er hat so einen Dachgarten. Leitner verweist auf Veränderungen: „Früher lebten arme Menschen unter dem Dach, wie das Bild ,Der arme Poet’ von Carl Spitzweg zeigt.“ Im 7. seien Dachboden und Garten heutzutage aber purer Luxus. Die Beletage, das Obergeschoß der Adeligen, gebe es nicht mehr.
Streit und Symbiose
Auch das seien Entwicklungen, die man in Neubau betrachten könne, so Leitner. Ein Stück weiter im Viertel fällt der Blick auf den Bücherschrank: Geben und Nehmen als gelebte Symbiose der Stadt. Das findet er fast schon visionär. Hier gab es die erste Begegnungszone, hier streiten sich Lastenräder um Parkplätze. Der urbane Raum sei stark umkämpft. Anders als bei freien Flächen am Land, wo man bauen könne, müsse man hier alternativ denken. „Man kann nur das eine oder andere machen. Man muss verhandeln, streiten.“
Wenn etwas Neues entsteht, findet er das gut, sogar ein Kaufhaus. Aber genauso lobt er, dass damals Anrainer für den Erhalt des Spittelbergs kämpften. „Der Flair des Bezirks muss erhalten bleiben“, sagt er. Lebensraum dürfe nicht nur wirtschaftlich begriffen werden. Auch Graffiti störe ihn nicht. Es erinnere ihn an den ersten Graffiti-Künstler, Joseph Kyselak, der seinen Namen sogar bei einer Audienz mit dem Kaiser in der Hofburg hinterließ. Auch Kyselak war aus Neubau.
Visionäres Dorf
Beim Testlabor Neubau können aber auch Fehler passieren: Die Stromtankstellen für E-Autos nehmen Platz weg, sagt Leitner. „Daraus soll man lernen.“ Bemerkenswert findet er, dass man sich mehr über E-Roller auf dem Gehsteig echauffiert als über parkende Autos auf den Gassen.
Bei seinem Spaziergang besucht Leitner noch den Glasmacher in der Westbahnstraße, der bei einem 1.100 Grad heißen Ofen an Glasobjekten arbeitet. Und bleibt später in der Lerchenfelderstraße bei seiner Lieblingsbücherei stehen. Das Leben mitten in der Stadt wirkt bei diesem Spaziergang fast so wie in einem visionären Dörfchen.
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