Der SPÖ-Bezirksvorsteher besuchte den FPÖ-dominierten Wahlsprengel 114 und stieß in den dortigen Gemeindebauten auf eine Mauer des Schweigens. Die hat eine lange Vorgeschichte.
Eines kann man dem Bezirksvorsteher von Floridsdorf, Georg Papai (SPÖ), wirklich nicht unterstellen: Dass er nicht das Gespräch mit den Bewohnern und Bewohnerinnen seines Bezirks sucht.
Dreimal pro Woche lädt er laut eigenen Angaben zu seinen „Grätzlsprechstunden“ ein. So auch an diesem herbstlichen Dienstagnachmittag im Wahlsprengel 114, in dem die FPÖ bei den jüngsten Nationalratswahlen die Hälfte aller gültig abgegebenen Stimmen bekommen hat (siehe Grafik).
Als Bewohner dieses aufgelockerten Ensembles an unterschiedlichen Gemeindebauten, die in den 1930er- und 1950er-Jahren errichtet wurden, fand neben rund 1.000 Nachbarn auch der Autor dieses Artikels eine übersichtlich gestaltete Einladung in seinem Postkastl.
Er wohnt hier schon seit seiner Studienzeit, seit August 1986. Damals erhielt die SPÖ satte Zweidrittel-Mehrheiten – und das bei allen Wahlen.
Im Ausland hui, hier pfui
Um vor Ort möglichst schnell reagieren zu können, rückt Bezirkschef Georg Papai mit Mitarbeitern aus seinem Büro, von Wiener Wohnen, den Wohnpartnern sowie zwei Grätzlpolizistinnen an. Immerhin lässt das aktuelle Wahlergebnis in diesem blau eingefärbten Sprengel viele Beschwerden erwarten.
Fünf Minuten nach 16 Uhr ist die Überraschung bei den Anwesenden groß: Nur vier Wähler aus dem Wahlsprengel 114 wollen seiner Einladung folgen.
Auf die Frage, welches Problem er hat, meint einer der ältesten Gemeindebaumieter entlang der Justgasse, kurz angebunden: „Keines.“ Das verwundert insofern, als er sich eigentlich immer über dieses und jenes beschwert, wenn man ihn im Hof trifft.
Noch nie hat man von ihm vernommen, dass die rund 300 Euro, die er für seine gut 50 Quadratmeter große Gemeindebauwohnung monatlich bezahlt, keine allzu hohe finanzielle Belastung für ihn und seine Frau darstellen.
Solche Wertschätzungen finden sich immerhin in internationalen Medien. So war ein Team des deutschen TV-Senders ZDF ebenso schon zu Gast im Wahlsprengel 114 wie spanische oder italienische Reporter. Zuletzt fragte der Korrespondent der Tageszeitung El País, ob die Menschen in diesen Gemeindebauten glücklich wären. Zur Frage inspiriert hat ihn das viele Grün in den Höfen und ein Graffito mit dem Titel „Glückliche Menschen in neuen Häusern“.
Seine Frage muss verneint werden. Mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten ging nicht zur Wahl. Und die beiden zuletzt im Bund regierenden Parteien ÖVP und Grüne sowie die in Wien dominierende SPÖ wurden abgestraft.
Die Frage ist nun, woran dieses tiefe Misstrauen liegt. Und die Antwort darauf benötigt mehr als einen Satz.
Zunächst: Bis hinein in die 1980er-Jahre wohnten Mandatare der Sozialdemokratie Tür an Tür mit ihrer Stammklientel. Wer sich über etwas ärgerte, konnte unmittelbar Dampf ablassen. Heute sind Typen wie der langjährig Freiheitliche und Gründer einer eigenen Partei (WIFF), Hans-Jörg Schimanek, sofort zur Stelle, wenn zum Beispiel die neue Bank für eine Bushaltestelle den Volkszorn erregt, weil sie angeblich den Fußgängern im Weg steht.
Während die SPÖler nicht mehr in der Lage sind, eine Wohnung fürs Burli oder einen Job bei der Konsumgenossenschaft freihändig zu vergeben, haben die Schimaneks von Floridsdorf freie Fahrt. Sie wettern a) gegen die Stadt Wien und b) gegen „die Migranten“, die ohne jegliche Vorleistung die größeren Wohnungen bekämen.
Tatsächlich hat sich die Population im Wahlsprengel 114 seit dem August 1986 deutlich verändert: Jene, die damals auf einen Studenten wie Pensionisten anmuteten, zogen irgendwann in ein Seniorenwohnhaus, zogen zu ihren Kindern, verstarben. In ihre Wohnungen kamen in der Tat viele Menschen mit nicht-deutscher Mitsprache.
Notwendig ist der Hinweis: Die „Zuzügler“, wie sie gerne mit dem Unterton der Abwertung genannt werden, halten sich ebenso gut oder schlecht an die Hausordnung wie die, die schon länger da sind.
Ganz unabhängig von der Muttersprache fällt auf, dass sonntags im Wahlsprengel 114 all die Taschen mit den heimischen Tageszeitungen fast unberührt bleiben. Und dass manch einer aufgrund prekärer Verhältnisse über den Floridsdorfer Spitz nicht allzu oft hinauskommt. Jene können somit nicht wissen, dass ihre Wohnung in Madrid oder Barcelona gut und gerne das Dreifache kosten würde.
Ein junger SPÖ-Bezirksmandatar wirkt ratlos an diesem Dienstagnachmittag: „Ich habe mir erwartet, dass die Leute kommen werden und uns erzählen, was sie wütend macht, was sie bedrückt.“
Parteikassiere: Bis zur Einführung des Erlagscheins gingen Parteikassiere von Tür zu Tür und konnten auch sofort als Blitzableiter fungieren.
Flaute am 1. Mai: Bei der Sanierung der Fenster in Gemeindebauten wurden auch die Fahnen-Halterungen entfernt: SPÖ-Fahnen am 1. Mai – passé
66 Prozent und mehr wählten 1986 im Sprengel 114 die Sozialdemokratische Partei.
Eine ältere Mieterin sagt, dass sie „Geräusche“, die von „einem Nachbarn ober mir“ kommen könnten, kein Auge zumachen lassen. Wer etwas länger zuhört, merkt schnell: Eigentlich ist es die Einsamkeit, die sie bedrückt. Selten ist wer da, der ihr zuhört.
Genau hier vermutet ein älterer SPÖ-Mitarbeiter eine Möglichkeit, wieder Stimmen für seine Partei zu lukrieren: „Wir müssen uns in Zukunft mehr auf die große Gruppe der Nichtwähler fokussieren. Die sind für uns noch nicht verloren. Allerdings werden wir nicht umhinkommen, mit ihnen wieder viel öfters das Gespräch zu suchen.“
Undefinierbare Geräusche und eine angeblich falsch aufgestellte Bank: Das Zuhören erfordert einiges an Empathie.
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