Was seither passiert, ist ein Lehrbeispiel für politische Misskommunikation auf der einen Seite und für Bürgerprotest auf der anderen. Die Geschichte von Schönauer ist eng damit verbunden. Eigentlich, sagt er mit einem Schulterzucken, habe er „für all das gar keine Zeit“. Er ist berufstätig, hat Familie, „und wahrlich Besseres zu tun.“
Tatsächlich passt der 47-Jährige nicht ins Bild, das Bürgerinitiativen mitunter abgeben – und das die Politik gerne von ihnen zeichnet: Querulanten, die notwendige Infrastrukturprojekte für die Allgemeinheit verzögern oder gar verhindern, weil sie ihren Eigeninteressen entgegenstehen. Mit der Novelle der Umweltverträglichkeitsprüfung soll nicht zuletzt ihnen das Wasser abgegraben werden.
Schönauer will mit Querulantentum nichts zu tun haben. „Man darf nie mit Verbitterung agieren“, sagt er. Überhaupt wollen er und seine Mitstreiter „nicht bloß etwas verhindern, sondern Alternativen aufzeigen“. Ein Foto von sich vor dem Bahnschranken, vielleicht gar mit verschränkten Armen, wird er daher kurz darauf ablehnen. Das wirke destruktiv. Lieber will er „Offenheit für Dialog“ signalisieren. Man ist geneigt, ihm zu glauben.
Behörden und Politik haben die Lage völlig verkannt. Die Bevölkerung in Hietzing ist dem Grätzel verbunden, gut situiert, gebildet. Kurzum: Man kann es sich leisten, sich nicht alles gefallen zu lassen. Und eine Hochtrasse, die neben Altbauten, Villen und einigen Gemeindebauten vorbeiführt, die will man sich hier keinesfalls gefallen lassen.
Was die Anrainer stört, ist nicht nur das Projekt an sich. Es ist die Vorgehensweise. Die Politik fährt über die Interessen der Hietzinger drüber – im doppelten Wortsinn. „Es ist kein schönes Gefühl, wenn man sich den Mächtigen ausgeliefert fühlt.“
Das hat Schönauer, sechs Jahre ist es her, zum Protest gebracht. Gemeinsam mit Nachbarn hat er die „Initiative Lebenswertes Unter St. Veit“ gegründet. Sein Eindruck, der sich seither verhärtet hat: „Die Verantwortlichen hatten bereits alles fertig konzipiert. Die Menschen hat man nur noch auf ein Schnitzel und ein Getränk eingeladen, um für gute Stimmung zu sorgen.“ Es werde „bloß kalmiert, nicht zugehört“, die Experten seien voreingenommen, Mails beantworten die Behörden mit „vorgefertigten Textblöcken“.
Wirkliches Interesse an Ideen aus der Bevölkerung hätte man dort nie gehabt. Erst vor wenigen Wochen wurde etwa ein Gestaltungswettbewerb für ein Teilstück der Strecke ausgeschrieben. „Ich erhalte nicht einmal die Unterlagen“, erzählt Schönauer einem jener Männer, der ihn im Café „Seidl“ in ein Gespräch verwickelt hat. „Dafür muss man Ziviltechniker sein.“ Ein Glück. Der Mann, mit dem Schönauer tratscht, ist Ziviltechniker – und verspricht, die Unterlagen umgehend zu besorgen.
So funktioniere das hier im Grätzel, sagt Schönauer. Alle helfen mit. Es gebe Techniker, Juristen, Architekten. Erst gemeinsame Recherchen hätten nach und nach aufgedeckt, was die ÖBB planen.
So habe es die Anrainer stutzig gemacht, dass für 155 Häuser entlang der Trasse künftig Lärmschutzfenster nötig seien. Man deckte auf, dass neben der S-Bahn auch vermehrt Güterverkehr über die Strecke geführt werden solle. Auch die Auswirkungen auf die Natur sind mittlerweile bekannt: Der Kfz-Verkehr werde wegen dauerhafter Sperren und Umleitungen zunehmen und mindestens 2,5 Hektar Boden würden versiegelt. Etwa 1.000 Bäume müssten gefällt werden, Nachpflanzungen seien nicht in ausreichendem Maß vorgesehen.
Für Schönauer eine Horrorvision: „Ich habe mich in die bestehende Bahnstrecke verliebt.“ Tatsächlich ist sie gesäumt von sattem Grün. „Ein wichtiger Lebensraum für viele Tiere.“ Kommt die Hochtrasse, fällt das weg. Und das Grätzel werde „in zwei Teile zerschnitten“.
Die Schuld sieht er bei der Politik, „der der Gestaltungswille abhanden gekommen ist“ und bei den ÖBB, die „die für sich einfachste Variante gewählt haben.“
Was aber ist nun mit seinen Alternativen? Schönauer plädiert für eine Tieferlegung der Trasse ohne Tunnel unter dem Wienfluss und mit Einhausungen sowie Überplattungen. So entstünden Querungsmöglichkeiten und neuer Freiraum, den die Menschen gestalten und nutzen könnten. Mit den Umbauten könne man Erdwärme nutzbar machen, um das Grätzel „von der Abhängigkeit vom Gas zu befreien“. Dass all das technisch möglich sei, habe sein Team recherchiert und berechnet, sagt Schönauer. Die Behörden hätten diese Variante nicht unabhängig geprüft.
Aktueller Stand im Endlos-Streit: Die Bürgerinitiativen haben eine Beschwerde gegen den UVP-Bescheid eingelegt, jetzt liegt der Fall beim Bundesverwaltungsgericht. Und kommende Woche, am 23. Juni, wird man erneut protestieren im Bezirk. „Wir geben die Hoffnung nicht auf.“
Nicht zuletzt, weil es immer wieder Erfolge gibt – auch ganz kleine: Der Ziviltechniker hat Wort gehalten. Noch während Schönauer im „Seidl“ sitzt, erhält er die dringend gesuchten Unterlagen per Mail.
Den „Seidl“ selbst wird es, wenn die Behörden nicht einlenken, übrigens nicht mehr lange in seiner gewohnten Form geben. Der urige Würstelstand neben dem Café fällt der Trasse zum Opfer – und muss abgerissen werden.
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