Brunnenmarkt-Opfer könnte noch leben

Brunnenmarkt Reportage Mord
Schizophrener Kenianer attackierte schon früher zwei Frauen. Kein Einzelfall für die Justiz.

Falls der Kenianer Francis N. heute, Montag, im Wiener Landesgericht von einem Geschworenensenat in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen wird, dann käme dieser Beschluss zu spät. Wie sich aus dem Gutachten des Gerichtspsychiaters Karl Dantendorfer ergibt, ist der schon seit Jahren an einer paranoiden Schizophrenie leidende 21-Jährige in der Vergangenheit bereits zwei Mal grundlos mit einer Eisenstange auf Frauen losgegangen, bevor er am 4. Mai 2016 am Wiener Brunnenmarkt die 54-jährige Reinigungskraft Maria E. erschlagen hat.

Hätten die Behörden schon früher reagiert und wäre die Krankheit des obdachlosen Mannes schon früher behandelt worden, könnte Maria E. heute noch leben.

34-mal auf Psychiatrie

Wobei Francis N. bezüglich eines möglichen Behördenversagens kein Einzelfall ist: Der 33-jährige Mirko G., ebenfalls obdachlos, leidet auch seit Jahren an paranoider Schizophrenie. 2009 attackierte er auf offener Straße zum ersten Mal eine unbekannte Frau. Er befand sich insgesamt 34-mal auf der Baumgartner Höhe (Psychiatrie), wurde aber nie länger dort behalten.

Am 23. Juni 2016 packte Mirko G. in Wien-Alsergrund eine Fußgängerin, die sich auf dem Weg zur Arbeit befand, von hinten und würgte sie. Wäre nicht ein Autofahrer aus seinem Wagen gesprungen und hätte eingegriffen, wäre die Passantin womöglich erstickt. Sie litt nach der Attacke an Schnappatmung und einer Wirbelzerrung. Mirko G. sagt, er höre Stimmen. Der Staatsanwalt ("Jeder könnte sein nächstes Opfer sein") beantragt – wie im Fall Brunnenmarkt – die Einweisung des Unzurechnungsfähigen in eine Anstalt, am 13. Dezember sollen Geschworene darüber entscheiden.

Brunnenmarkt-Opfer könnte noch leben
ABD0002_20160504 - WIEN - ÖSTERREICH: Ein Mann hat in der Nacht auf Mittwoch, 4. Mai 2016 am Brunnenmarkt in Wien-Ottakring eine Frau brutal mit einer Eisenstange attackiert. Die 54-Jährige erlitt massive Kopfverletzungen, sie starb noch an Ort und Stelle. Im Bild, der Tatort. - FOTO: APA/HERBERT P. OCZERET
Schon heute aber geht es um Francis N. Der 21-Jährige war am Brunnenmarkt, wo er sich als Obdachloser herumtrieb und gelegentlich Cannabis verkauft haben soll, seit Längerem als Unruhestifter bekannt bzw. gefürchtet. 2013 war er erstmals zu einer teilbedingten Haftstrafe verurteilt worden, wovon er zwei Monate absitzen musste. Laut Polizei wurde der Kenianer in weiterer Folge mehr als ein Dutzend Mal angezeigt. Er kam Ladungen allerdings nicht mehr nach. Aus Sicht der Justiz war der Mann mangels einer Meldeadresse nicht greifbar und wurde zur Aufenthaltsermittlung ausgeschrieben. Dass er keineswegs untergetaucht war, sondern am Brunnenmarkt regelmäßig als Störenfried in Erscheinung trat, sprach sich offenbar nicht bis zur Justiz durch.

Bei Kontrollen durch die Polizei wurde dem Kenianer zwar mitgeteilt, dass er von der Staatsanwaltschaft gesucht wird. Das dürfte den 21-Jährigen aber nicht weiter interessiert haben. Ein Polizist soll am 22. März und damit wenige Wochen vor der Tötung von Maria E. per eMail einen "Arbeitsauftrag" von der Anklagebehörde eingefordert haben, um gegen den verhaltensauffälligen Mann vorgehen zu können.

Entschädigung

Für die Angehörigen der mit einer Eisenstange erschlagenen 54-Jährigen ist es wichtig, "dass in der Verhandlung aufgezeigt wird, welche Versäumnisse da stattgefunden haben und was da alles falsch gelaufen ist". Das sagte Mathias Burger (Kanzlei Boran Heck), der Rechtsvertreter des Witwers und der Tochter, vor der Verhandlung. Die Hinterbliebenen haben sich als Privatbeteiligte angeschlossen und zur Kenntnis genommen, dass der 21-jährige Kenianer dem psychiatrischen Gutachten zufolge zum Tatzeitpunkt unzurechnungsfähig gewesen sein soll. Aus ihrer Sicht hätte er sich da aber längst in Gewahrsam befinden müssen. "Wäre er zu einem Amtsarzt oder einem Sachverständigen gebracht worden, hätte das jeder Experte innerhalb von zwei Minuten erkannt, dass der Mann eine Bedrohung für seine Umwelt darstellt", sagte Burger. Das wäre "aus Bequemlichkeit" unterblieben.

Für diese behördlichen Unterlassungen, die Maria E. aus Sicht ihrer Familie mit dem Leben bezahlt hat, verlangen ihre Angehörigen eine Wiedergutmachung. "Wir erwarten uns, dass die Republik eine Entschädigung bezahlt für die Versäumnisse", stellte Burger fest. Mit der Finanzprokuratur sind diesbezüglich Gespräche im Gang.

Um ein allfälliges Behördenversagen festzustellen, hat Justizminister Wolfgang Brandstetter (ÖVP) nach der Tat eine Sonderkommission eingesetzt. Leiter dieser SOKO ist Helfried Haas, Vizepräsident des Wiener Landesgerichts für Zivilrechtssachen. In dem Gremium arbeiten derzeit 19 Vertreter öffentlicher Stellen und Behörden die Vorgänge auf. Laut Haas ist ein Abschlussbericht mit konkreten Vorschlägen um den Jahreswechsel geplant. In einem im Oktober vorgelegten Zwischenbericht wurden systemische Probleme zwischen den Institutionen geortet. "Konkret geht es etwa um die Datenschutzproblematik und die Aufklärung dahingehend, dass bei einer akuten Gefährdung Daten durchaus im notwendigen Umfang an andere Behörden weitergeleitet werden dürfen", erläutert Haas.

Aber auch legistische Probleme werden behandelt. Eine Änderung der Auslegung des Unterbringungsgesetzes werde laut Haas diskutiert. In Zukunft müsse jedenfalls mehr getan werden, wenn jemand psychisch auffällig wird: "Ein Case Management mit klarer Verantwortung ist notwendig, angefangen von der rechtzeitigen psychiatrischen Betreuung bis hin zu einer möglichen Ausbildung Betroffener." Dass dies unter anderem eine Personalaufstockung des Jugendamts erforderlich macht, ist laut Haas klar.

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