Warum Liesing wie Wien ist, nur im Kleinformat

Warum Liesing wie Wien ist, nur im Kleinformat
Im schnell wachsenden Bezirk ist der Wohnbau und die dafür nötige Infrastruktur die größte Herausforderung. Während neue Grätzel florieren, fühlt sich manch Gemeindebaubewohner im Stich gelassen.

Liesing, der 23. und südlichste Bezirk Wiens, ist selbst für viele eingefleischte Wienerinnen und Wiener ein weißer Fleck auf dem Stadtplan. Größere Bekanntheit haben höchstens die markanten Wohntürme des Wohnparks Alterlaa oder die sagenumwobene „Liesinger Partie“, die als Machtzentrum innerhalb der Wiener SPÖ gilt.

Der Bezirk ist wie eine Stadt in der Stadt, erklärt Bezirksvorsteher Gerald Bischof (SPÖ), „das Abbild Wiens auf 32 Quadratkilometern“. Das bestätigt sich auch bei einem Blick auf die Wahlergebnisse der vergangenen Jahre – das Liesinger Ergebnis unterscheidet sich immer nur in Nuancen vom wienweiten Ergebnis.

Von Industrie bis zu ausladenden Waldflächen findet sich tatsächlich alles im Bezirk, was es auf dem gesamten Stadtgebiet auch gibt. Da gibt es etwa die gediegene Einfamilienhaus-Gegend Mauer, in der, wie im benachbarten Hietzing, die ÖVP ihre Hochburg hat und auch die Grünen viel Zuspruch erfahren.

Dann gibt es Grätzeln wie Atzgersdorf, die viele Gemeindebauten beheimaten und wo sich traditionell SPÖ und FPÖ um die Vorherrschaft matchen.

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„Viel und groß“

Die größte Herausforderung ist die rasante Stadtentwicklung, etwa in Atzgersdorf, die Bauten schießen scheinbar wie Schwammerl aus dem Boden. „Diese Bauten verstehe ich nicht, also warum die so viel und so groß gebaut wurden“, sagt etwa Brigitte Mitzka, ehemalige Volksschullehrerin, die beim Heurigen Weindorfer zu Mittag isst, zu dem auch der Bezirkschef gekommen ist, um mit den Bewohnern zu sprechen.

„Parallel zum Wohnungsbau die nötige Infrastruktur zu entwickeln, ist sicher eine der größten Herausforderungen der aktuellen Zeit“, sagt Bischof. In den vergangenen vier Jahren habe man darum insgesamt vier neue Schulstandorte mit insgesamt 70 Klassen geschaffen.

Die Kritik, dass alles verbaut wird, lässt Bischof jedenfalls nicht gelten. Gerade in Atzgersdorf wären die Wohnungen großteils auf Industriebrachen, sogenannten „Brown Fields“, mit einem Versiegelungsgrad von 90 bis 95 Prozent entstanden. Mit den Wohnbauten gebe es nun zwar wesentlich höhere Gebäude, dafür betrage der Versiegelungsgrad nur noch 50 bis 60 Prozent.

Café Elou serviert "Flat White"

Die neuen Grätzel entwickeln sich schnell weiter. Mitten in Atzgersdorf findet sich etwa das Café Elou (Gastgebgasse 6). Bestellen kann man seinen Kaffee hier als „Flat White“ oder „Cold Brew“, eine Seltenheit in einem Bezirk, wo sonst eher traditionelle Küche – wie in den Heurigen in Mauer – zu finden ist.

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Mitten in Atzgersdorf hat sich auch  das Café Elou angesiedelt.

„Wir haben etwas Modernes, Peppiges, Schickes in den Bezirk geholt und das wird sehr gut angenommen“, erzählt Inhaberin Patricia Matuszewski. Sie wohnt selbst um die Ecke. „Es ist sehr fein hier.“ Viele junge Familien wären hierhergezogen, es gebe aber auch barrierefreie Wohnungen für ältere Personen. „Es ist ein bunter Mix.“ Sie selbst sei in ein spannendes Projekt gezogen, wo sie unter anderem viele freischaffende Künstlerinnen und Künstler als Nachbarn habe.

Nur wenige Meter weiter entsteht in der ehemaligen Sargfabrik mit der „Fabrik1230“ ein Ort für Kunst und Kultur. Schon jetzt sind in den umliegenden Anlagen Ankündigungen für Kindertheater oder andere Veranstaltungen aufgehängt. Es ist nicht zu übersehen: das Grätzel ist bunt – und es lebt.

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Bezirksvorsteher Gerald Bischof bietet Bewohnern die Möglichkeit, in Grätzelgesprächsrunden  ihre Wünsche kundzutun.

Als Zaungast

Im Gegensatz zu der großen Gemeindebauanlage gleich über der Straße. „Wir fühlen uns hier im Stich gelassen“, sagt eine der Bewohnerinnen, die lieber anonym bleiben möchte. Man beobachte als Zaungast, wie viel für die Neubauten getan werde und sehe selbst dem Verfall der eigenen Umgebung zu. „Bei einem Haus gibt es den ganzen Winter schon eine Tür, die nicht schließt, und keiner kümmert sich darum“, erzählt die Dame. Am Tag des Lokalaugenscheins gab es wegen Bauarbeiten mehrere Stunden keinen Strom in der Anlage.

Natürlich könne man die Infrastruktur von gegenüber mitnutzen, es gebe aber mehrere Hindernisse: Der direkte Weg ist versperrt, man muss außen herumgehen, für ältere Menschen, von denen hier viele wohnen, ein sehr weiter Weg. „Und wenn man kein Instagram hat, weiß man gar nicht, was drüben eröffnet.“

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Manche Gemeindebaubewohner kritisieren den Verfall der Bauten.

S-Bahn-Ausbau kommt

Bei den Öffis gibt es jedenfalls auch noch Nachholbedarf. Derzeit läuft die Umweltverträglichkeitsprüfung für den viergleisigen Ausbau der Südbahnstrecke von Meidling bis Mödling. 

Danach soll die Station Liesing wie die U-Bahn im Fünfminutentakt angefahren werden. Bis dahin dauert es aber noch mehrere Jahre und man muss länger warten, um „in die Stadt“ zu fahren, wie es die Liesinger nennen, wenn sie den Bezirk verlassen.

"Partie ist ein nettes Wiener Wort"

Die Frage, ob Bischof der „Liesinger Partie“ angehört, quittiert er übrigens mit einem Schmunzeln. „Wir sind eine Gruppe von politisch engagierten Menschen innerhalb der SPÖ, die einander schon lange kennt“, sagt er. „Ich habe den Eindruck, es ist der Neid, wenn man uns Liesinger Partie nennt, weil wir wenig streiten, sondern zielorientiert im Sinne der Sozialdemokratie arbeiten. Aber soll so sein, Partie ist ein nettes Wiener Wort.“

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