Auch Aliyev wäre heute wieder in Freiheit

Die beiden Angeklagten Alnur Mussayev (re.) Aliyevs Sicherheitsberater Vadim Koshlyak.
Überraschende Wende. Richter entlässt Angeklagte aus der U-Haft: Kein dringender Tatverdacht mehr.

Am Mittwoch wäre auch Rakhat Aliyev ein freier Mann gewesen. Hätte sich der unter Mordverdacht gestandene kasachische Ex-Botschafter nicht am 24. Februar in seiner Zelle erhängt (möglicherweise deshalb, weil ihn seine Mutter und Schwester bezichtigt haben, den kurz davor gestorbenen Vater ins Grab gebracht zu haben), wäre er am 8. Prozesstag enthaftet worden. Genau so wie seine beiden Mitangeklagten, Ex-Geheimdienstchef Alnur Mussayev und Ex-Leibwächter Vadim Koshlyak.

„Ein Mordprozess gegen Angeklagte auf freiem Fuß ist ein Novum“, entrüstet sich Opferanwalt Gabriel Lansky.

Richter Andreas Böhm machte am Mittwoch zwischen zwei Zeugenvernehmungen aus seinem Herzen keine Mördergrube und verkündete, er glaube nicht mehr an einen dringenden Tatverdacht. Den „widersprüchlichen Angaben“ vom offiziellen Kasachstan könne kein Glauben geschenkt werden. Böhm äußerte sogar die Vermutung, das Ganze könnte von Kasachstan gesteuert worden sein.

Befangenheit

Dabei sprach er auch dezidiert die Witwe eines der beiden ermordeten kasachischen Bankmanager an. Diese hatte als Zeugin erklärt, dass der zur Unterstützung der Opfer gegründete Verein „Tagdyr“ von Geschäftsleuten – deren Namen sie nicht nennen wolle – mitfinanziert worden sei. Den von Opferanwalt Gerald Ganzger daraufhin vorgebrachten Ablehnungsantrag gegen den Richter wegen Befangenheit wies derselbe umgehend ab.

Laut Böhm würden auch die Ausführungen des Gerichtsmediziners Daniele Risser zu denken geben. Dieser hatte festgestellt, dass die Leichen der getöteten Bankmanager so konserviert gewesen seien, als ob die Täter erreichen wollten, dass sie gefunden und identifiziert werden. Außerdem habe nach Einschätzung des Richters mindestens ein Zeuge gelogen. Das Tüpfelchen auf dem i waren für Böhm offenbar zwei Varianten einer Information über Militärstrafverfahren, die in Kasachstan in Abwesenheit über Mussayev und Koshlyak geführt worden waren und Verurteilungen ergeben hatten. Einmal hieß es, diese seien bereits rechtskräftig, ein anderes Mal, sie seien es noch nicht.

Minutenlang begründete Böhm, weshalb die beiden Angeklagten aus der U-Haft zu entlassen sind. Das ging vor allem in Richtung der Geschworenen, denen der Richter signalisierte, dass alle Beweise direkt aus Kasachstan stammen und von der Staatsanwaltschaft ungeprüft in die Anklageschrift übernommen worden seien.

Hier hakt Aliyev-Anwalt Klaus Ainedter ein: „Wir haben während des jahrelangen Vorverfahrens gebetsmühlenartig darauf hingewiesen, dass die kasachische Seite Beweismittel fälscht und Zeugenaussagen erpresst.“ Ihre Einwände wurden nicht gehört, dafür Aliyev (und die beiden mutmaßlichen Komplizen) aber in U-Haft genommen. Ainedter: „Umso fragwürdiger ist der bis heute ungeklärte Tod unseres Mandanten in der U-Haftzelle. Er wäre heute ebenso wie die anderen Beschuldigten frei gegangen.“ Anwalt Manfred Ainedter spricht dem KURIER gegenüber deshalb vom „größten Justizskandal der jüngeren Geschichte“.

Beweiswürdigung

Dass der Richter bereits am 8. Tag des von ihm selbst für insgesamt 27 Tage angesetzten Mordprozesses den dringenden Tatverdacht als geschwunden sieht, erzürnt wiederum den Anwalt der Familien der ermordeten Bankmanager. Gabriel Lansky: „Für die Beweiswürdigung in einem Mordprozess sind ausschließlich die Geschworenen zuständig. Ich hätte mir gewünscht, dass der Vorsitzende in der Begründung für die Enthaftung der Angeklagten nicht die Aufgabe des Geschworenensenats vorwegnimmt, nämlich am 8. Verhandlungstag eine Vorweg-Beweiswürdigung vorzunehmen. Es wurde bisher erst ein Bruchteil der geladenen Zeugen befragt.“

Immerhin gäbe es mehrere Beschlüsse des Oberlandesgerichts Wien (OLG), „die in 20-seitigen Begründungen eine vollständig gegenläufige Beurteilung abgegeben haben und einen dringenden Tatverdacht untermauern.“ Das OLG werde sich neuerlich damit befassen, nachdem die Staatsanwaltschaft Beschwerde gegen die Enthaftungen erhoben hat.

Zunächst aber wird nach Programm weiterverhandelt, als wäre nichts passiert.

Ein Mordprozess ohne Hauptangeklagten – das ist schon genug Herausforderung. Ein Mordprozess aber, in dem der Vorsitzende die übrig gebliebenen Mitangeklagten mangels dringender Beweise aus der U-Haft entlässt, ist sinnlos. Minutenlang erläuterte der Richter den Geschworenen, für wie unglaubwürdig er alle Zeugenaussagen hält, die aus dem fernen Kasachstan kommen. Da hätte er gleich selbst einen Freispruch fällen können, ohne Beteiligung der Laienrichter. Die müssen sich in den nächsten Verhandlungswochen fragen, wozu sie überhaupt noch hier sitzen.

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