Italienischer Bürgermeister: "Täglich verschwinden Kinder"

Bürgermeister Luigi Ammatuna
Der Bürgermeister der Hafenstadt Pozzallo, Luigi Ammatuna, über die dramatische Situation in Italien.

Die Schicksale von Kindern auf der Flucht standen im Mittelpunkt der 3. Internationalen Bürgermeister-Konferenz NOW, die in Wien stattfand. Der Bürgermeister der sizilianischen Hafenstadt Pozzallo, Luigi Ammatuna, ist, wie er im KURIER-Interview sagt, täglich mit dem Schicksal von Flüchtlingskindern konfrontiert. Allein 2016 kamen 20.000 minderjährige Flüchtlinge nach Italien.

KURIER: Neun von zehn minderjährigen Flüchtlingen, die 2016 in Italien ankamen, waren unbegleitet. Was passiert mit den Kindern nach der Ankunft?

Luigi Ammatuna: Sobald die Kinder in Pozzallo ankommen, werden sie in eigene Unterkünfte gebracht. Wir haben gesetzlich die Verpflichtung, minderjährige Flüchtlinge von den Hotspots, in denen Erwachsene untergebracht sind, zu trennen.

Wie funktioniert die "gerechte" Aufteilung und Unterbringung der Kinder in verschiedene Regionen?

Ein Angestellter in unserer Stadtverwaltung ist jeden Tag nur damit beschäftigt, landesweit Gemeinden und Städte in ganz Italien durchzurufen, die sich bereit erklären , Flüchtlingskinder aufzunehmen. Das Problem ist, dass wir im Süden die größte Anzahl schultern und sich Norditalien oft weigert, Leute aufzunehmen.

2016 starben 4600 Flüchtende auf dem Seeweg nach Europa, darunter waren 700 Kinder.

Wir alle wissen, wie sehr wir uns um unsere Kinder sorgen, wenn sie nur eine Erkältung haben. Stellen Sie sich vor, welche Verzweiflung eine Familie dazu veranlassen muss, ihr Kind auf die gefährliche Flucht über das Mittelmeer zu schicken, das sie vielleicht nie wiedersehen. Ich lade alle verantwortlichen Politiker ein, an die Hafenmole von Pozzallo zu kommen und mit eigenen Augen zu sehen, wie Flüchtlinge im Sommer mit sonnenverbrannter Haut und fast ohnmächtig vor Hitze und im Winter mit nasser, durchtränkter Kleidung nach tagelanger lebensgefährlicher Überfahrt in Südsizilien ankommen. Darunter sind viele Mütter mit Babys, schwangere Frauen und Kinder. Wer das jemals gesehen hat, wird eine andere Migrationspolitik einschlagen.

2016 wurden 10.000 Kinder von Europol als vermisst gemeldet. Menschenhandel, Kinderarbeit, sexuelle Ausbeutung, Organhandel gelten als eine der größten Gefahren für Kinder auf der Flucht.

Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht auf das Polizeikommissariat gehe, um das Verschwinden von zwei, drei Kindern zur Anzeige zu bringen. Es sind viele Kinder, die einfach spurlos verschwinden. Es ist ein Riesenproblem. Erst vor einigen Tagen konnte auf Sizilien eine Bande ausgehoben werden, der Drogenhandel und Prostitution mit Minderjährigen vorgeworfen wird.

Nahezu die Hälfte aller Kinder auf der Flucht ist selbstmordgefährdet.

Vor zwei Wochen hat sich ein sehr trauriger Fall am Canal Grande in Venedig ereignet. Ein junger Mann aus Gambia, der über das Mittelmeer nach Pozzallo kam und zwei Jahre auf Sizilien lebte, ist vor den Augen Hunderter Augenzeugen ertrunken. Niemand half ihm. Wenn das hier in Pozzallo passiert wäre, wären mindestens zehn Leute zu Hilfe geeilt. Es wird vermutet, dass der junge Mann Selbstmord verübt hatte, nachdem ihm die Aufenthaltsgenehmigung verweigert wurde.

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