Die Wiener Kindheit des vertriebenen Forschers

Martin Karplus: Nobelpreisträger 2013
Der diesjährige Preisträger Martin Karplus hat die österreichische und amerikanische Staatsbürgerschaft.

Er war ein schlimmes Kind, damals in Wien, das gibt er unumwunden zu. Einmal weigerte sich Martin Karplus, den ihm vorgesetzten Spinat zu essen und spuckte ihn stattdessen auf die Zimmerdecke. „Der Fleck war noch viele Jahre dort sichtbar“, erinnert sich der künftige Nobelpreisträger für Chemie.

Martin Karplus wurde 1930 in Wien geboren und sollte nach dem Wunsch seiner Eltern Arzt werden, weil man in diesem Beruf als Jude in Wien am wenigsten diskriminiert wurde. „Ich ging auch schon mit fünf Jahren herum“, schreibt der künftige Nobelpreisträger in seiner Autobiografie, „und bandagierte Sesselbeine und anderen Ersatz für gebrochene Knochen.“ Der Apfel wäre nicht weit vom Stamm gefallen: Seine beiden Großväter waren berühmte Ärzte in Wien: Johann Paul Karplus als Neurologe, Samuel Goldstern hatte sich auf die Behandlung rheumakranker Patienten spezialisiert und besaß das Sanatorium Fango.

Flucht in die USA

Martin ist ein typischer Wissenschaftler, wie er im Buche steht“, erzählt Hermann Karplus, in Wien lebender Cousin des Chemikers. „Wir trafen uns vor zehn Jahren, als er kam, um das Haus seiner Eltern in der Grinzinger Paradisgasse zu besuchen. Sein Wiener Akzent ist immer noch unverkennbar.“

Martin Karplus’ Familie flüchtete nach dem „Anschluss“ über die Schweiz in die USA. Dort wurde dann doch nichts aus der Medizin: Karplus studierte in Harvard und Oxford Chemie und lehrt dieses Fach seit 1979 an den Universitäten Harvard und Straßburg, während sein 1990 verstorbener älterer Bruder Robert in Berkeley Physik unterrichtete.

Durch eben diesen Bruder kam Martin Karplus zur Chemie: Die Eltern schenkten Robert bereits in Amerika einen Chemiekasten, mit dem er Experimente durchführte, die einen furchtbaren Geruch erzeugten, aber Martin faszinierten. Auch er wollte mitmachen, „aber die Eltern lehnten das ab, weil sie meinten, dass zwei mit Explosivem experimentierende Buben zu viel seien.“ Stattdessen bekam er von seinem Vater Hans Karplus ein Mikroskop. Martin war enttäuscht, weil es „weder Geräusche noch Gerüche von sich gab“ – doch das Mikroskop besitzt er heute noch. Vor allem, weil es die Grundlage für sein Interesse an den Naturwissenschaften schuf.

Rabbinerschule

Die Familie Karplus ist eine alte jüdische Familie, der Kaufleute und Wissenschafter entstammen. „Urvater“ Friedrich Karplus, eine maßgebliche Größe unter den Juden Mährens, half beim Aufbau einer Rabbinerschule und ließ sich wie viele Bewohner der damaligen Kronländer im 19. Jahrhundert in Wien nieder. Andere Angehörige der weit verzweigten Familie waren Holzindustrielle und Geschäftsleute.

Die Familie hat eine große Geschichte: Margarete Karplus, eine Tante Martins, war mit dem weltberühmten Philosophen Theodor W. Adorno verheiratet. Und Martins Großvater väterlicherseits, der erwähnte Neurologe Johann Paul Karplus war Ehemann der Valerie von Lieben, die einer der bekanntesten Familien Wiens der Gründerzeit entstammte: Robert von Lieben hatte die Elektronenröhre entwickelt, die dann den Aufbau des Telefonnetzes ermöglichte. Martin Karplus’ Großeltern wohnten im Palais Lieben, dem Haus, in dessen Erdgeschoß sich heute das Café Landtmann befindet und in dem damals auch Bertha Zuckerkandl ihren legendären Salon mit Gästen wie Arthur Schnitzler, Gustav Mahler und Gustav Klimt betrieb.

Makart-Bild

Die Großeltern des Nobelpreisträgers – Johann Paul und Valerie Karplus – waren 1919, wie viele assimilierte Juden, aus der Israelitischen Kultusgemeinde ausgetreten und blieben fortan, wie die meisten ihrer Nachkommen, ohne religiöses Bekenntnis. Das half natürlich nichts, als die Nationalsozialisten 1938 einmarschierten. Während Valerie von Lieben kurz vor dem „Anschluss“ verstorben war, flüchtete der Rest der Familie nach Amerika und Palästina. Die Häuser und Wohnungen mit Möbeln und Bildern wurden „arisiert“.

Die Geschichte eines Bildes der Familie sorgte erst vor wenigen Wochen für Schlagzeilen – der KURIER berichtete: Ein Makart-Bild aus dem Besitz der Familie Karplus wurde beschlagnahmt, von einem Nazi-Anwalt veruntreut und 1951 an das Belvedere verkauft. Ein Onkel von Martin Karplus erfuhr 1978 von der Existenz des Bildes und korrespondierte mit dem Belvedere. Aber alle Fristen für die nach dem Krieg erlassenen Rückgabegesetze waren mittlerweile bereits abgelaufen. 1998 wurden jedoch neue gesetzliche Möglichkeiten geschaffen. Durch eine Inventarliste aus dem Jahr 1938 war belegt, dass sich das Bild im Besitz der Familie Karplus befunden hatte. Es wurde restituiert und von Belvedere-Direktorin Agnes Husslein-Arco um 400.000 Euro angekauft, sodass es jetzt rechtmäßig dort ist, wo es sich bereits seit Februar 1951 befindet.

Frühe Autofahrt

Noch eine Erinnerung hat der künftige Nobelpreisträger – der heute sowohl amerikanischer als auch österreichischer Staatsbürger ist – an seine Kindheit in Wien: Seine Eltern hatten damals ein Steyr-Baby. Eines Tages setzte sich der kleine Martin in das Auto und fuhr los. „Ich hatte furchtbare Angst, als sich der Wagen einer Grube näherte, konnte es aber glücklicherweise rechtzeitig stoppen.“
Ein halbes Jahrhundert später besuchte er den Platz seiner Kindheit und das Haus, das die Nazis beschlagnahmt hatten, noch einmal. „Ich sah, dass die Strecke, die ich mit dem Auto zurückgelegt hatte, eigentlich harmlos war und ich sie als Kind viel dramatischer erlebt hatte.“

Heute sind das schon die Erinnerungen eines künftigen Nobelpreisträgers. Der freut sich riesig: "Ich habe jedes Jahr gewusst, dass ich nominiert werde. Aber dass man es bekommt, ist eine Überraschung", sagt Karplus in einem Interview mit dem Deutschlandfunk.

Am Mittwoch wurde der dritte Nobelpreis dieses Jahres vergeben: Nach der Verleihung des Medizin-Preises am Montag und des Physik-Preises am Dienstag wurde in Stockholm die Auszeichnung für Chemie vergeben. Der Preis ist - wie im Vorjahr - mit acht Millionen Schwedischen Kronen (921.000 Euro) dotiert.

Ausgezeichnet wurden der in Österreich geborene US-Amerikaner Martin Karplus, sowie die US-Forscher Michael Levitt und Arieh Warshel für die Entwicklung mehrskaliger Modelle von komplexen chemischen Systemen. Anders gesagt: Sie bekamen die Auszeichnung für die Grundlagen für Computermodelle, die zum Verständnis und zur Vorhersage chemischer Prozesse verwendet werden.

Karplus wurde 1930 in Wien geboren, musste aber nach dem Anschluss aus Österreich in die USA flüchten. Mit ihm wird demnach die Liste der in Österreich geborenen, von den Nazis aber noch im Kindheits- bzw. Jugendalter vertriebenen Nobelpreisträger nach zuletzt Walter Kohn (Chemie-Nobelpreis 1998) und Eric Kandel (Medizin-Nobelpreis 2000) wieder um einen Namen länger. Karplus ist nach eigenen Angaben sogar neben seiner US-Staatsbürgerschaft auch noch österreichischer Staatsbürger - seine wissenschaftliche Karriere machte der theoretische Chemiker aber fernab Österreichs an den Top-Universitäten der USA und Großbritanniens.

"Gleichwertige Partner"

Die Königlich-Schwedische Akademie der Wissenschaften in Stockholm begründete die Auswahl der Preisträger damit, dass diese drei Forscher die Theoretische neben der experimentellen Chemie als "gleichwertige Partner" etabliert hätte, etwas, das vor 20 Jahren noch undenkbar gewesen wäre, hieß es.

Im vergangenen Jahr ging die Auszeichnung an die beiden US-Wissenschafter Robert Lefkowitz und Brian Kobilka für die Erforschung wichtiger Kommunikationskanäle von Körperzellen. Übergeben wird der Preis alljährlich am 10. Dezember, dem Todestag des Stifters Alfred Nobel.

Ein gebürtiger Wiener bekommt den Chemie-Nobelpreis. Großartig! Aber hoffentlich wagt niemand, den 1938 Vertriebenen taxfrei wieder zum Österreicher zu erklären. Mittlerweile ist allen klar, wie schäbig es gegenüber den unfreiwilligen „Emigranten“ und wie schädlich es für die Geisteskultur unseres Landes war, sich nicht aktiv um deren Heimkehr zu bemühen. Doch noch immer wird zugelassen, dass die Intelligenz-Elite das Land verlässt. Diesmal nicht, weil sie verfolgt wird, sondern weil sie zu wenig Entfaltungsmöglichkeiten findet. Das fängt mit einem Schulsystem an, das mehr nach Schwächen als nach Stärken sucht und alle über einen Kamm scheren will.

An den heimischen Unis wiederum wird hart daran gearbeitet, die Frustrationstoleranz junger Leute auszutesten. Wer danach dennoch eine Wissenschaftskarriere anstrebt, findet kaum klare Richtlinien vor. Für „Eggheads“ aus dem Ausland gilt bezeichnenderweise eine hohe Pension als größtes Lockmittel für eine Professorenstelle in Österreich. Doch den roten Teppich ausgerollt hat man Spitzenkräften in Wahrheit nie. Dafür müssten vor allem auch bürokratische Hemmnisse abgebaut werden.

„Elite“ und Spitzenleistung? Gilt in Österreich als „neoliberales“ Projekt, auch wenn es mittlerweile einige (von der Regierung Schüssel eingerichtete) Spitzenforschungsinstitute gibt, die vielleicht gerade die Nobelpreisträger von morgen „produzieren“. Aber über Mindestlohn reden wir halt trotzdem noch viel lieber als über Mehrleistung.

Seine gesammelte Werke hat der Nobelpreisträger auf einer eigenen Homepage veröffentlicht.

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