"Tag der Tränen" in Lampedusa: 300 Tote befürchtet
Bis zu 300 Tote könnten es sein: Jene Helfer, die mit den Rettungsarbeiten nach der Flüchtlingstragödie vor Lampedusa beschäftigt sind, befürchten, dass nicht mehr viele Überlebende gefunden werden können. 130 Leichen hat man bereits geborgen, mehr als 200 afrikanische Flüchtlinge gelten aber noch als vermisst.
Die Suchaktion ist deshalb die ganze Nacht lang fortgesetzt worden. Trotz schwieriger Wetterlage und starken Winds suchten Tauchermannschaften weiterhin nach Leichen neben und im Wrack des Bootes, das sich in einer Tiefe von 40 Metern befindet.
Trauertag in ganz Italien
Die Flüchtlinge stammten größtenteils aus Eritrea und Somalia und waren in Libyen Richtung Lampedusa aufgebrochen. Einige Überlebende berichteten, sie hätten ein Feuer an Deck entfacht, in der Hoffnung, vorbeifahrende Schiffe auf sich aufmerksam zu machen. Dabei merkten sie nicht, dass sich Benzin auf dem Deck befand. Das Boot geriet in Flammen, in Panik geratene Migranten sprangen ins Wasser. Dabei kippte das ganze Boot um und sank später.
Hunderte Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, sollen in ihrer Verzweiflung ins Meer gesprungen sein. Überlebende beklagten später, dass zwei bis drei Boote an ihnen vorbeigefahren waren, ohne Hilfe zu leisten.
Papst spricht von "Schande"
Franziskus hatte am Donnerstag im Vatikan gesagt, es könne nur als "Schande" bezeichnet werden, dass schon wieder Menschen bei einem solchen Unglück ums Leben gekommen seien. "Wir müssen uns zusammenschließen, damit diese Tragödien aufhören", forderte der Papst.
Der UN-Sonderberichterstatter für die Rechte von Migranten, François Crepeau, hat nach dem Flüchtlingsdrama vor der italienischen Insel Lampedusa die europäische Einwanderungspolitik kritisiert. "Diese Toten hätten vermieden werden können", sagte Crepeau am Donnerstag vor der UN-Vollversammlung in New York. Die illegale Einwanderung könne nicht "ausschließlich mit repressiven Maßnahmen" bekämpft werden, sagte der kanadische Jurist. Dieses Vorgehen verstärke nur die Macht der Schlepper.
Crepeau rief die Staatengemeinschaft dazu auf, die Möglichkeiten für eine legale Einwanderung auszubauen. Sanktionen müssten nicht die Flüchtlinge treffen, sondern beispielsweise die Arbeitgeber, die illegale Einwanderer beschäftigten. Dies werde jedoch aus "politischen Beweggründen" unterlassen. In den Aufnahmeländern müsse die "Vorstellung von Vielfalt und Multikulturalität" akzeptiert werden.
Rom will Friedensnobelpreis für Lampedusa
EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Durao Barroso die Mittelmeerinsel besuchen. „Barroso muss klar sein, dass Lampedusa die südlichste Grenze Europas ist. Italien wird beim Treffen zwischen Barroso und den europäischen Innenministern mit stärkstem Nachdruck das Thema Migration ansprechen“, sagte der italienische Innenminister Angelino Alfano. Die Regierung in Rom wolle zudem die Kandidatur der Bewohner Lampedusas für den Friedensnobelpreis für ihr unermüdliches Engagement zugunsten der Flüchtlinge vorschlagen, sagte der Innenminister. „Europa muss die eigene Südgrenze schützen. Wenn man verhindern will, dass nationalistische Strömungen zunehmen, muss sich Europa für seine Grenze einsetzen“, meinte Alfano. Er rief Brüssel auf, der EU-Grenzschutzeinheit Frontex mehr Mittel zur Verfügung zu stellen.
Der Präsident des EU-Parlaments, Martin Schultz, meinte, dass sich Straßburg bei einer Sitzung am kommenden Montag mit dem Thema Migration befassen werde. „Italien, Spanien und Malta: Ihre Städte und ihre Inseln müssen sich mit riesigen Dramen auseinandersetzen. Wir müssen diese Staaten bei ihrem Einsatz zur Hilfe der Migranten unterstützen. Die Last für den Schutz der europäischen Grenzen muss von all unseren Ländern übernommen werden“, sagte Schultz im Interview mit der Mailänder Tageszeitung „Corriere della Sera“.
Inner-italienischer Streit
In Rom hat sich indes scharfe Polemik rund um die Einwanderungspolitik der Regierung entsponnen. Die ausländerfeindliche Oppositionspartei Lega Nord nahm die aus dem Kongo stammende Integrationsministerin Cecile Kyenge ins Visier, die sich in den vergangenen Monaten mit Nachdruck für eine Lockerung des geltenden Einwanderungsgesetzes stark gemacht hatte. Auch die Präsidentin der Abgeordnetenkammer, Laura Boldrini, ehemalige Sprecherin des UNO-Flüchtlingshochkommissariats (UNHCR), wurde von der Lega Nord wegen ihrer Appelle zur Aufnahme von Flüchtlingen scharf attackiert.
Kyenge und Boldrini seien für das Drama mitverantwortlich, erlärte der Vizepräsident der Lega-Abgeordnete, Gianluca Pini. "Sie verbreiten heuchlerische Integrationsslogans, statt mit konkreten Taten die Drittweltländer zu unterstützen. Boldrini und Kyenge haben all die in diesen letzten Monaten ums Leben gekommene Migranten auf dem Gewissen", betonte Pini.
Laut Lega-Chef Roberto Maroni haben weder die italienische Regierung noch die EU-Kommission ihre Pflichten in punkto Bekämpfung des Menschenhandels erfüllt. "Sie unternehmen nichts, um die Abfahrt der Flüchtlingsboote aus Nordafrika zu verhindern", protestierte Maroni. Die Lega Nord beschuldigt die EU, Italien bei der Bewältigung des Flüchtlingsnotstands im Stich gelassen zu haben.
Kyenge reagierte scharf auf die Kritik der Lega. "Die Worte des Parlamentariers Pini sind nicht nur eine Beleidigung gegen mich, sie beleidigen auch die Todesopfer", sagte die Ministerin. "Die Attacke der Lega ist unannehmbar", protestierte auch die linke Senatorin Anna Finocchiaro.
Die aus dem Kongo stammende Augenärztin Kyenge wurde seit ihrer Berufung zur Integrationsministerin im April zum Ziel zahlreicher rassistischer Verbalangriffe. Mitte Juli verglich der Lega-Nord-Senator Roberto Calderoli die Ministerin mit einem Orang-Utan. Kyenge wurde später bei einer Veranstaltung mit Bananen beworfen.
"Wir stehen jetzt vor Massakern an Unschuldigen, weshalb sich die internationale Gemeinschaft und vor allem die EU nicht mehr vor der absoluten Notwendigkeit von Entscheidungen und Aktionen drücken kann", sagte Staatspräsident Giorgio Napolitano. Innenminister Angelino Alfano, der selbst nach Lampedusa reiste, forderte: "Wir hoffen, dass die EU wahrnimmt, dass es sich nicht nur um ein italienisches, sondern um ein europäisches Drama handelt".
Norina Ventre, 85, aus Rosarno in Kalabrien ist seit vielen Jahren ein Rettungsanker für afrikanische Flüchtlinge. Die pensionierte Lehrerin organisiert jeden Sonntag eine Mensa unter freiem Himmel. In ihrem Orangenhain werden bis zu 300 Personen mit Pasta und Huhn verköstigt. „Mamma Africa“, wie sie von ihren Schützlingen genannt wird, organisiert auch Kleidervergabe und Unterkünfte.
KURIER: Die Situation in den überfüllten Auffanglagern wird immer kritischer. Die Lebensbedingungen sind unmenschlich. Hat sich nach dem Besuch von Integrationsministerin Cécile Kyenge in Isola Capo Rizzuto etwas geändert?
Wenn uns Europa nicht bald hilft, sind wir verloren. Kalabrien und Sizilien sind voll. Kyenge kam letzte Woche ins größte Auffanglager Europas, hier in Kalabrien, um nach den Protesten der Flüchtlinge die angespannte Lage etwas zu entschärfen. Ich hoffe, dass sich durch die erste schwarze Ministerin etwas verbessert.
Was wird am dringendsten benötigt?
Essen, Unterkünfte und Arbeit. Das große Problem ist: Die Landwirtschaft steckt in einer tiefen Krise. Die Arbeitslosenquote ist hier auch enorm hoch. Jetzt sind wieder mehr Italiener als Erntehelfer im Einsatz als früher. Ich bereite gerade die Geldkuverts für meine Arbeiter vor. (Die Erntehelfer bekommen 25 Euro am Tag. Der Ansturm auf die schlecht bezahlte, körperlich anstrengende Arbeit ist riesig, Anm.)
Sie sind als „Mamma Africa“ längst eine Institution für Flüchtlinge geworden.
Ich kann niemanden mit Hunger wegschicken. Die Leute brauchen Essen, wir versuchen Schlafplätze zu finden, ich sammle Kleider. Ich bin Taufpatin zahlreicher afrikanischer Kinder. Wir hoffen auf Container als Unterkünfte, auch in alten verfallenen Landhäusern suchen die Leute Unterschlupf und schlafen zu Dutzenden auf dem Boden. Die Leute kommen voller Hoffnung und enden in der Trostlosigkeit.
Bekommen Sie Unterstützung von offizieller Seite?
Wir arbeiten alle ehrenamtlich. Letztes Jahr bekam ich von der Gemeinde 1000 Euro, nicht viel, aber besser als nichts. Heuer gab es noch gar nichts. Sonst kümmern sich nur kirchliche Vereine wie etwa die Caritas. Ich bekomme viele Lebensmittel-Spenden. Die Leute hier sind großzügig, haben aber selbst wenig.
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