Lampedusa: „Es ist wie auf einem Friedhof“

Beim Untergang eines Flüchtlingsbootes vor Lampedusa starben mehr als hundert Menschen.

Überall sind Leichen“, berichteten Rettungskräfte vom Unglücksort auf der süditalienischen Insel Lampedusa. Vor Sizilien spielte sich am Donnerstag eine unermessliche Katastrophe ab. Mindestens 133 Flüchtlinge aus Afrika sind ertrunken. Sie waren auf einem völlig überfüllten und veralteten Schiff unterwegs Richtung Europa. Aus zunächst unbekannter Ursache kam es auf dem Boot zu einem Brand. Hunderte Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, sprangen in ihrer Verzweiflung ins Meer. Überlebende beklagten später, dass zwei bis drei Boote an ihnen vorbeigefahren waren, ohne Hilfe zu leisten.

500 Menschen an Bord

Eine Karte zeigt die Fluchtwege von Afrika nach Europa über das Mittelmeer.
An Bord des Bootes, das in Libyen abgefahren war, befanden sich rund 500 Flüchtlinge. Etwa 200 Menschen galten am Donnerstag Nachmittag noch als vermisst. 141 Menschen konnten gerettet werden. Der Großteil der Flüchtlinge stammt aus Somalia, Ghana und Eritrea. Ein mutmaßlicher Schlepper wurde festgenommen. Die Leichen wurden in einem Hangar des Flughafens aufgebahrt.

Das Unglück brachte die Regierung zum Nachdenken: Premier Enrico Letta sprach von einer „immensen Tragödie“. Vize-Premier Angelino Alfano stellte die parteiinternen Turbulenzen kurzfristig hintan, sagte alle Termine ab und flog nach Lampedusa.

„Es ist ein absoluter Horror. Aus den Booten wird eine Leiche nach der anderen geholt. Es ist wie auf einem Friedhof“, berichtete die Bürgermeisterin von Lampedusa, Giusi Nicolini, die sich am Hafen befand. Sie sprach von einer „riesigen Tragödie.“ „Es reicht, worauf warten wir noch?“, so Nicolini. Die zahlreichen Appelle der engagierten Politikerin an die EU, etwas gegen dieses „Massaker auf dem Meer“ zu unternehmen, verhallten bisher ungehört.

Handeln gefordert

Für die Abgeordnetenkammer-Präsidentin Laura Boldrini ist das Drama das Ergebnis fehlender Beschlüsse in der Migrationspolitik. Als ehemalige Sprecherin des Flüchtlingswerks UNHCR warnte Boldrini vor einer „Globalisierung der Gleichgültigkeit“ . Verkehrsminister Maurizio Lupi forderte von der EU und der internationalen Gemeinschaft eine gemeinsame Initiative zur Bekämpfung des Flüchtlingsstroms.

Papst Franziskus rief per Twitter zum Gebet für die Opfer auf. Bei seinem Besuch im Juli auf der Insel Lampedusa hatte er an die Tausenden Menschen erinnert, die bei der Überfahrt starben.

„Es ist ein Morden, das man unbedingt stoppen muss. Das kann man nicht mehr erdulden“, sagte der ehemalige Pfarrer der Kirche San Gerlando von Lampedusa, Stefano Nasta. Kurz vor dem Drama traf in der Nacht ein Bootswrack mit 463 syrischen Flüchtlingen ein. Erst vor wenigen Tagen starben elf Syrer, die von einem Schlepper vor Lampedusa ins Meer geprügelt wurden.

Der UN-Sonderberichterstatter für die Rechte von Migranten, François Crepeau, hat nach dem Flüchtlingsdrama vor der italienischen Insel Lampedusa die europäische Einwanderungspolitik kritisiert. "Diese Toten hätten vermieden werden können", sagte Crepeau am Donnerstag vor der UN-Vollversammlung in New York. Die illegale Einwanderung könne nicht "ausschließlich mit repressiven Maßnahmen" bekämpft werden, sagte der kanadische Jurist. Dieses Vorgehen verstärke nur die Macht der Schlepper.

Crepeau rief die Staatengemeinschaft dazu auf, die Möglichkeiten für eine legale Einwanderung auszubauen. Sanktionen müssten nicht die Flüchtlinge treffen, sondern beispielsweise die Arbeitgeber, die illegale Einwanderer beschäftigten. Dies werde jedoch aus "politischen Beweggründen" unterlassen. In den Aufnahmeländern müsse die "Vorstellung von Vielfalt und Multikulturalität" akzeptiert werden.

Inner-italienischer Streit

In Rom hat sich scharfe Polemik rund um die Einwanderungspolitik der Regierung entsponnen. Die ausländerfeindliche Oppositionspartei Lega Nord nahm die aus dem Kongo stammende Integrationsministerin Cecile Kyenge ins Visier, die sich in den vergangenen Monaten mit Nachdruck für eine Lockerung des geltenden Einwanderungsgesetzes stark gemacht hatte. Auch die Präsidentin der Abgeordnetenkammer, Laura Boldrini, ehemalige Sprecherin des UNO-Flüchtlingshochkommissariats (UNHCR), wurde von der Lega Nord wegen ihrer Appelle zur Aufnahme von Flüchtlingen scharf attackiert.

Kyenge und Boldrini seien für das Drama mitverantwortlich, erlärte der Vizepräsident der Lega-Abgeordnete, Gianluca Pini. "Sie verbreiten heuchlerische Integrationsslogans, statt mit konkreten Taten die Drittweltländer zu unterstützen. Boldrini und Kyenge haben all die in diesen letzten Monaten ums Leben gekommene Migranten auf dem Gewissen", betonte Pini.

Laut Lega-Chef Roberto Maroni haben weder die italienische Regierung noch die EU-Kommission ihre Pflichten in punkto Bekämpfung des Menschenhandels erfüllt. "Sie unternehmen nichts, um die Abfahrt der Flüchtlingsboote aus Nordafrika zu verhindern", protestierte Maroni. Die Lega Nord beschuldigt die EU, Italien bei der Bewältigung des Flüchtlingsnotstands im Stich gelassen zu haben.

Kyenge reagierte scharf auf die Kritik der Lega. "Die Worte des Parlamentariers Pini sind nicht nur eine Beleidigung gegen mich, sie beleidigen auch die Todesopfer", sagte die Ministerin. "Die Attacke der Lega ist unannehmbar", protestierte auch die linke Senatorin Anna Finocchiaro.

Die aus dem Kongo stammende Augenärztin Kyenge wurde seit ihrer Berufung zur Integrationsministerin im April zum Ziel zahlreicher rassistischer Verbalangriffe. Mitte Juli verglich der Lega-Nord-Senator Roberto Calderoli die Ministerin mit einem Orang-Utan. Kyenge wurde später bei einer Veranstaltung mit Bananen beworfen.

"Wir stehen jetzt vor Massakern an Unschuldigen, weshalb sich die internationale Gemeinschaft und vor allem die EU nicht mehr vor der absoluten Notwendigkeit von Entscheidungen und Aktionen drücken kann", sagte Staatspräsident Giorgio Napolitano. Innenminister Angelino Alfano, der selbst nach Lampedusa reiste, forderte: "Wir hoffen, dass die EU wahrnimmt, dass es sich nicht nur um ein italienisches, sondern um ein europäisches Drama handelt".

Norina Ventre, 85, aus Rosarno in Kalabrien ist seit vielen Jahren ein Rettungsanker für afrikanische Flüchtlinge. Die pensionierte Lehrerin organisiert jeden Sonntag eine Mensa unter freiem Himmel. In ihrem Orangenhain werden bis zu 300 Personen mit Pasta und Huhn verköstigt. „Mamma Africa“, wie sie von ihren Schützlingen genannt wird, organisiert auch Kleidervergabe und Unterkünfte.

KURIER: Die Situation in den überfüllten Auffanglagern wird immer kritischer. Die Lebensbedingungen sind unmenschlich. Hat sich nach dem Besuch von Integrationsministerin Cécile Kyenge in Isola Capo Rizzuto etwas geändert?

Wenn uns Europa nicht bald hilft, sind wir verloren. Kalabrien und Sizilien sind voll. Kyenge kam letzte Woche ins größte Auffanglager Europas, hier in Kalabrien, um nach den Protesten der Flüchtlinge die angespannte Lage etwas zu entschärfen. Ich hoffe, dass sich durch die erste schwarze Ministerin etwas verbessert.

Was wird am dringendsten benötigt?

Essen, Unterkünfte und Arbeit. Das große Problem ist: Die Landwirtschaft steckt in einer tiefen Krise. Die Arbeitslosenquote ist hier auch enorm hoch. Jetzt sind wieder mehr Italiener als Erntehelfer im Einsatz als früher. Ich bereite gerade die Geldkuverts für meine Arbeiter vor. (Die Erntehelfer bekommen 25 Euro am Tag. Der Ansturm auf die schlecht bezahlte, körperlich anstrengende Arbeit ist riesig, Anm.)

Sie sind als „Mamma Africa“ längst eine Institution für Flüchtlinge geworden.

Ich kann niemanden mit Hunger wegschicken. Die Leute brauchen Essen, wir versuchen Schlafplätze zu finden, ich sammle Kleider. Ich bin Taufpatin zahlreicher afrikanischer Kinder. Wir hoffen auf Container als Unterkünfte, auch in alten verfallenen Landhäusern suchen die Leute Unterschlupf und schlafen zu Dutzenden auf dem Boden. Die Leute kommen voller Hoffnung und enden in der Trostlosigkeit.

Bekommen Sie Unterstützung von offizieller Seite?

Wir arbeiten alle ehrenamtlich. Letztes Jahr bekam ich von der Gemeinde 1000 Euro, nicht viel, aber besser als nichts. Heuer gab es noch gar nichts. Sonst kümmern sich nur kirchliche Vereine wie etwa die Caritas. Ich bekomme viele Lebensmittel-Spenden. Die Leute hier sind großzügig, haben aber selbst wenig.

Kommentare