Lampedusa: „Opfern nicht mehr den Rücken kehren“

epa03149162 A handout image released by the Italian Navy shows immigrants on a boat off the Italian island of Lampedusa, 17 March 2012. Five immigrants from North Africa were found dead on a boat south of the Italian island of Lampedusa, port authorities said on 17 March. Coast guards were dispatched on a rescue mission after receiving an emergency call from the boat, which was carrying dozens of illegal immigrants. Some 52 immigrants, including five women, were found in poor health. EPA/ITALIAN NAVY/HO HANDOUT EDITORIAL USE ONLY/NO SALES
Jede Woche kommen Hunderte Flüchtlinge nach Europa. Die Bürgermeisterin von Lampedusa zieht nach dem Papst-Besuch Bilanz.

Harsche Kritik an Europa, das zum Flüchtlingsdrama im Mittelmeer schweigt, übt die Bürgermeisterin von Lampedusa, Giusi Nicolini. Sie zieht zehn Tage nach dem „historischen Besuch“ von Papst Franziskus auf der der süditalienischen Insel im KURIER-Interview Bilanz: „Niemand kann mehr vor den immensen Tragödien, die sich fast täglich vor den Küsten der Festung Europa abspielen, die Augen verschließen.“ Die Vertreterin der Demokratischen Partei regiert seit Mai 2012 die Insel, die Tunesien näher als Italien ist. In den letzten Tagen kamen wieder Hunderte Flüchtlinge aus Afrika dort an, auch vor Malta wurden Flüchtlinge aus überfüllten Booten gerettet.

KURIER: Was hat sich seit dem Besuch von Papst Franziskus auf Lampedusa – seiner ersten Pastoralreise seit Amtsantritt – verändert?

Lampedusa: „Opfern nicht mehr den Rücken kehren“
The major of Lampedusa Giusi Nicolini
Giusi Nicolini:Der Solidaritätsbesuch des Papstes hat Migranten die Würde zurückgegeben, welche die Staaten ihnen bisher stets verweigert hatten. Europa kann nicht mehr länger den Opfern gefühllos den Rücken zukehren. Ich wünsche mir, dass unsere Insel endlich ein Einfallstor für alle Hoffnungsreisenden über das Mittelmeer wird. Und die Menschen ein Recht auf einen Neubeginn haben, der auf Frieden und Menschenrechten basiert.

Sie haben wiederholt an die EU appelliert, das Schweigen zu brechen. Die Anzahl ertrunkener Flüchtlinge hätte längst das Ausmaß eines Kriegs erreicht. Gibt es nach dem Papst-Besuch eine Reaktion?

Nein absolut nichts. Das Schweigen der europäischen Politik, die sich gegenüber den Hilfeschreien zum Schutz einfachster menschlicher Grundbedürfnisse taub stellt, ist bitter. Aber es gibt eine außergewöhnliche Anzahl von Bürgern, Jugendlichen, Kirchenleuten und Vertretern der Zivilgesellschaft, die auf meine Appelle reagiert haben und uns unterstützen.

Welche Herausforderungen in der Migrations- und Asylpolitik müsste die EU am dringendsten in Angriff nehmen?

Die EU muss sich eingestehen, dass ihre repressive Sicherheitspolitik, die alle Gesetzesentscheidungen der letzten zehn Jahre geprägt hat, gescheitert ist. Sie muss einen klaren Richtungswechsel einschlagen. Sie muss akzeptieren, dass sich Migrationsflüsse „regieren“, aber nicht aufhalten lassen.

Lampedusa: „Opfern nicht mehr den Rücken kehren“
Was erwarten Sie sich von der neuen Integrationsministerin Cécile Kyenge?(Die gebürtige Kongolesin ist die erste schwarze Ministerin Italiens und wird seit Amtsantritt von Vertretern der rechtspopulistischen Lega Nord mit rassistischen Sprüchen attackiert, Anm.) Kyenge verfügt nicht nur über außergewöhnliche Erfahrung im Bereich Gesetzgebung und Immigration, sie hat auch große Sensibilität bewiesen. Sie besuchte die Insel, noch bevor sie Ministerin wurde. Sie arbeitet für ihr Ziel: die italienische Staatsbürgerschaft für alle hier geborenen Kinder, auch wenn ihre Eltern Immigranten sind. Ich hoffe, dass sie eine Reform durchbringt, die die Rechte von Leuten mit Migrationshintergrund schützt.

Lampedusa ist wegen seiner schönen Strände auch ein touristisches Ziel. Was unternehmen Sie, um die Sensibilität von Urlaubern gegenüber Flüchtlingen zu schärfen?

Es gibt zahlreiche Initiativen, wie das Lampedusa Filmfestival und ein Museum, wo sich alles um das Thema Immigration dreht. In Kürze wird eine internationale Bibliothek für Jugendliche und Kinder eröffnet.

„Danke Europa“ rufen Flüchtlinge oft hoffnungsvoll, wenn sie im Hafen von Lampedusa ankommen. An Land werden sie meist von der Küstenwache gebracht. Begrüßt und registriert von Mitgliedern des UNO-Flüchtlingshochkommissariats UNHCR, betreut von Hilfsorganisationen. Die jungen Männer und Frauen erhoffen sich ein besseres Leben. Fern von Verfolgung, Hunger, Durst, Angst. Dafür setzen sie ihr Leben in hoffnungslos überfüllten Booten aufs Spiel. In den vergangenen Jahren sind laut Schätzungen mehr als 20.000 Menschen im Mittelmeer ertrunken.

Die Route von Libyen oder Tunesien nach Norden war vor dem „Arabischen Frühling“ weitgehend stillgelegt. Dafür sorgte der libysche Herrscher Muammar Gaddafi. Erst 2011, als Gaddafi auf der Flucht vor den Rebellen war, wurde die Route von Schleppern wieder aktiviert. Sie nutzten das Machtvakuum und die Not der Fluchtwilligen, die „bewaffnet“ mit einer Flasche Wasser für die zwei bis vier Tage lange Überfahrt in der einen Hand und einer Flasche Benzin in der anderen, um ca. 1000 Euro ins Boot stiegen. Wenn die Küstenwache sie aufspürte, drohten sie damit, sich anzuzünden. Die Sicherheitsbeamten in den Ablege-Häfen in Libyen und Tunesien sind heute wieder aktiv – aber bestechlich. Für Bares schauen sie weg.

2012 wurden von der EU-Grenzschutzagentur Frontex rund 15.000 Menschen registriert, die diese Route genommen haben. Viele von ihnen waren Sub-Sahara-Afrikaner, die sich nach Libyen durchgekämpft hatten. Auf der westlichen Mittelmeerroute von Nordafrika nach Spanien nahm die Zahl gleichzeitig ab.

Die Route zwischen der Türkei und Griechenland war in den vier Jahren vor 2012 stark frequentiert. Als vor einem Jahr die griechische Grenzkontrolle verstärkt wurde, ist die Zahl dramatisch gesunken. Von 2000 illegalen Grenzgängern pro Woche verringerte sich die Zahl auf nur 10. Auch das Frontex-Budget wurde seit 2005 von sechs Millionen auf 80 Millionen aufgestockt. Weltweit waren 2012 45,2 Millionen Menschen auf der Flucht. Viele davon innerhalb des eigenen Landes.

Der Weg nach Europa führt laut Frontex meist über internationale Flughäfen – mit gültigem Visum, das überzogen wird.

Der Bürgerkrieg in Syrien, Krieg und Not in Afrika, die explosive Lage in Afghanistan oder die Verfolgung von Oppositionellen in Russland – all diese Entwicklungen lassen Menschen fliehen. Viele kommen in ein EU-Land und suchen um Asyl an.

In Deutschland haben sich die Asylanträge im ersten Halbjahr 2013 fast verdoppelt. In diesem Zeitraum haben 43.000 Menschen Asyl beantragt, das sind knapp 20.000 oder 86,5 Prozent mehr als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Die Hauptherkunftsländer waren Russland (10.000 Anträge) gefolgt von Syrien (4500) und Afghanistan (3500).

Stark stieg die Zahl der Asylbewerber auf Malta. Im Vergleich zu seiner Bevölkerung hat die Insel die größte Zahl von Asylwerbern in Europa. 21,7 Anträge pro 1000 Einwohner meldete die Regierung vor wenigen Tagen. Premier Joseph Muscat fordert von der EU Hilfe und neue Einwanderungsregeln. „Man lässt uns allein. Wir brauchen eine kohärente Migrationspolitik. Leere Worte über Solidarität genügen nicht.“

In Österreich gibt es einen moderaten Anstieg an Asylanträgen in den ersten fünf Monaten des Jahres 2013. Wie der KURIER im Innenministeriums erfuhr, gibt es von Jänner bis Ende Mai 2013 einen Anstieg von 5,7 Prozent.

In der ersten Hälfte 2012 stellten 6109 Asylwerber einen Antrag, in den ersten fünf Monaten 2013 lag die Zahl der Anträge bei 6456. Die Zahlen inklusive Juni liegen noch nicht vor. Die antragsstärksten Nationen sind Russland, gefolgt von Afghanistan, Syrien, Pakistan und Algerien. Experten führen den moderaten Anstieg in Österreich auf genaue Kontrollen und strenge Asylregeln zurück.

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