Dass sie es so weit gebracht haben, verdanken sie nicht zuletzt ihrer kulturellen Neugierde. „Da jede von uns andere Sticktechniken kannte, machten wir uns in ganz Italien auf die Suche nach lokalen, typischen Stichen“, erzählt Cosmi weiter. Und irgendwann stellten sie sich auch die Frage: „Was ist für Reggio Emilia typisch?“
Sticken als Behandlungsmethode für psychisch kranke Frauen
Obwohl sie pessimistisch waren, fündig zu werden, wurde die Suche belohnt. „Da muss man aber zeitlich etwas zurückgreifen“, sagt Frau Cosmi. „In den Dreißigerjahren gab es außerhalb von Reggio Emilia eine psychiatrische Anstalt, die eine gewisse Bekanntheit erlangt hatte, weil sie von Maria Bertolani Del Rio geführt wurde - das war die erste Psychiaterin und auch erste Direktorin einer Nervenklinik in Italien.“
Die Ärztin hatte bemerkt, dass die Patienten, wenn man sie beschäftigt hielt, viel ruhiger wurden. Deswegen beschloss sie, 1931 mit ihren Patientinnen an einem nationalen Handwerks-Wettbewerb für Frauen teilzunehmen, der in der apulischen Stadt Bari stattfand. Über einen Kunstexperten stieß sie auf eine von Blumen geprägte lokale Dekorationstradition, die noch auf die Zeit der hier sehr verehrten mittelalterlichen Markgräfin Mathilde von Canossa (um 1046 – 1115) zurückging.
Das Institut gewann so den ersten Preis und die Psychiaterin setzte den therapeutischen Ansatz fort. Die Muster und Zierleisten aus der Zeit Mathildes wurden den Patientinnen als Vorlagen zum Sticken, Malen und für andere kunsthandwerkliche Beschäftigungen gegeben.
Mittelalterliche Stickkunst
Frau Cosmi und ihren Freundinnen gelang es noch, eine der Stickerinnen, die das Institut einst nutze, auszumachen. „Die Frau war schon sehr alt, aber noch sehr klar im Kopf. Und sie hat uns die Kunst der Dekoration aus der Ära Mathildes, die "Ars Canusina", beigebracht.“
Aus dem einstigen Erfahrungsaustausch war 1990 die Stickereischule Reggio Ricama entstanden, die es weiter gibt. Im Laufe der Jahre hatten sich die Frauen außerdem so viel Erfahrung und Geschick angeeignet, dass sich der Wunsch anbahnte, Papst Franziskus ein Geschenk zu sticken: Ein Altartuch für die Kapelle von Santa Marta, dem Gästehaus des Vatikans, in dem der Heilige Vater wohnt.
„Der Wunsch wurde zur Tat. Auf das weiße Leinen haben wir 2.665 Blumen mit der Wickelstichtechnik gestickt“ sagt Frau Cosmi. Das Tuch nannten sie „Paradiestuch“ und übergaben es persönlich dem Papst. Später folgten das Tuch des Fischers und das Tuch der Vergebung. Letzteres, mit dem "Ars Canusina"-Stil dekoriert, schmückt den Altar von San Giuseppe im Petersdom. Jetzt wartet man gespannt auf das Jubiläumstuch.
Kommentare