Türkei: Wie die Menschen nach dem Mega-Beben ums Überleben kämpfen
Die Betroffenen in der Region schwanken zwischen Wut, Verzweiflung und der vagen Hoffnung auf Besserung. Ein KURIER-Lokalaugenschein nach dem Desaster.
Der weiße Heizkörper hängt wie bei einer Kunst-Installation aus dem zusammengefalteten Wohnhaus, dem die Vorderseite komplett fehlt. Ein Vorhang flattert über die zusammengeschobenen Geschoßdecken, die fast senkrecht Richtung Erdboden ragen. Dazwischen wurde alles zerquetscht und zermalmt, was das Leben dieser Menschen einst ausmachte.
Ort der bizarren Szenerie: Adiyaman in einer der von den beiden Beben vom 6. Februar am stärksten betroffenen türkischen Regionen. Allein in dieser Stadt starben 6.500 Männer, Frauen und Kinder (in der gleichnamigen Provinz waren es 8.000). Somit stammt jedes achte der mehr als 50.000 türkischen Todesopfer aus Adiyaman. Etwa die Hälfte der gut 300.000 Einwohner stand plötzlich vor dem Nichts und musste die gewohnte Umgebung verlassen. Laut Angaben des World Food Program der UNO kamen bisher nur 20 Prozent zurück.
Flucht war für das betagte Ehepaar Göksen keine Option. „Unser Haus fiel einfach zusammen, meine Frau und ich konnten uns gerade noch rechtzeitig ins Freie retten. Wir sind aber zu alt, um noch von hier wegzugehen, etwa zu unseren Kindern, die längst ausgezogen sind“, sagt Vakkas Göksen (73). Das Beatmungsgerät seiner Frau Elif (71) wurde bei den Beben unter den Trümmern begraben. „Sie musste dann sofort ins Spital.“ Doch damit war das Martyrium der beiden noch nicht zu Ende.
Heute hat die Seniorin einen neuen Sauerstoffapparat und lebt mit ihrem Mann in einer Container-Siedlung in Adiyaman. Ein Sofa, ein Bett, ein paar Waschutensilien – mehr haben die Göksens nicht (mehr). Aber die Hoffnung, dass die Regierung ihr Versprechen hält, binnen Jahresfrist den Großteil der Gebäude wieder aufzubauen. Viele meinen allerdings, dass Präsident Tayyip Erdoğan mit dieser Ansage eher seine Wiederwahl bei dem Urnengang vom 14. Mai im Blickfeld hat als die Realität: Hat doch das Beben an die 300.000 Häuser zerstört, laut Schätzung entstand ein Schaden von mehr als 100 Milliarden Euro (das ist mehr als das BIP von Bulgarien mit rund 85 Milliarden Euro).
Die Herkulesaufgabe der Aufräumarbeiten ist jedenfalls in vollem Gang, wobei die unterschiedlichen Stadien gut sichtbar sind: Da gibt es komplett geräumte Flächen, die schon bereit stünden für die Errichtung eines neuen Gebäudes, daneben arbeiten sich riesige Schaufelbagger durch Trümmerhaufen von in sich zusammengesackten Wohnsilos. Daraus ragen fallweise noch Puppen oder Sofas. Aber auch zwei Monate nach der Katastrophe drohen schiefe Häuser, die noch nicht abgetragen wurden, zu kollabieren. In anderen kann man durch armbreite Risse in Küchen und Wohnzimmer blicken. Andernorts wiederum werden Autowracks gestapelt, die unter Tonnen von Mauerwerk zertrümmert wurden.
Bei den verbliebenen Menschen liegen derweil die Nerven blank. Vom KURIER-Reporter auf die Situation angesprochen, entspinnt sich auf der Straße sofort eine lautstarke Debatte: Die Hilfe sei zu spät gekommen und zu wenig, meint der eine, der andere widerspricht. Dissens auch, was die medizinische Versorgung anbelangt. Einige zeigen bereitwillig ihre Handy-Videos und -Bilder von der Zerstörung, andere schauen nur mürrisch. Keine Frage, vor den Mai-Wahlen sind die Beben und deren Folgen zu einem Politikum mit Sprengkraft geworden.
Einigkeit herrscht zwischen den Männern nur in einem Punkt: Das Leben in Zelten ist die Hölle – tatsächlich campieren im Zentrum der Stadt Familien in kleinen Parks. Der Untergrund ist wegen des aktuellen Dauerregens morastig, und in der Nacht hat es Temperaturen um den Gefrierpunkt.
Aus diesem Grund entsteht in Adiyaman mit 25.000 Einheiten eine der größten Containersiedlungen in dieser Gegend – die vom Erdbeben betroffene Region ist in etwa so groß wie Deutschland. Ziel ist es, die obdachlos gewordenen und geflohnen Menschen wieder an ihre angestammten Plätze zu bringen. Und das hat auch wirtschaftliche Gründe: Die betroffenen elf Provinzen sind für 20 Prozent der türkischen Agrarproduktion verantwortlich. Und demnächst beginnt die Aussaat für die kommende Ernte.
Doch diese Menschen müssen auch mit Nahrung versorgt werden. Deswegen betreibt das UN-Welternährungsprogramm (WFP) in der Stadt eine gigantische Suppenküche. In einem 24/7-Betrieb werden täglich 350.000 Mahlzeiten zubereitet. „Wir verarbeiten jeden Tag fünf Tonnen Fleisch“, sagt der verantwortliche „Oberkoch“ zu Österreichs Landwirtschaftsminister Norbert Totschnig. Der Tiroler bereiste diese Woche die Katastrophengebiete und sagte dem WFP sechs Millionen Euro Unterstützung zu.
"Will mein altes Leben wieder"
In dieser Mega-Küche ist Mustafa Yalsin als Elektriker tätig. Er stammt aus der Region und beschreibt die Momente der Bebens so: „Es fühlte sich gar nicht an wie ein Wackeln, sondern eher wie ein Hüpfen.“ Die erste Nacht schliefen er, seine Frau und die drei Kinder in der unversehrt gebliebenen Holzhütte – seither in einem Zelt. Ob er das Wohnhaus je wieder aufbauen könne? Der 34-Jährige zuckt nur mit den Achseln und fügt leise an: „Ich will bloß mein altes Leben wieder haben.“
An dieses schloss Imam Taki nun ein wenig an: „Ich hatte vier Restaurants in Adiyaman, drei sind total zerstört. Dieses hier, das ,Alim Sofrast’ (auf TripAdvisor die Nummer eins der Stadt), überstand die Beben leicht beschädigt. Zur Bewirtung des Ministers aus Österreich und der Delegation habe ich es jetzt erstmals nach der Katastrophe aufgesperrt“, sagt der Gastronom, der mit seiner Frau ebenfalls im Container wohnen muss.
"Es muss ja weitergehen"
Die finanzielle Basis für sein Business hat der nun 38-Jährige als Gastarbeiter in Stuttgart gelegt. Daher spricht er Deutsch – sehr gebrochen. Gänzlich ungebrochen ist aber seine Tatkraft: „Ich werde mein Restaurant ab jetzt offenhalten, wieder arbeiten und auf morgen schauen, es muss ja weitergehen.“
Teile der Reisekosten übernahm das LW-Ministerium.
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