Früherer SS-Wachmann vor Gericht: Prozess gegen das "Rädchen in der Mordmaschinerie"

Ein früherer SS-Wachmann (93) steht ab heute wegen Beihilfe zum Mord vor Gericht. Es könnte einer der letzten Prozesse sein.

Ein früherer SS-Wachmann (93) steht ab heute wegen Beihilfe zum Mord vor Gericht – es könnte einer der letzten Prozesse sein. 200 Seiten füllen die Vernehmungsprotokolle zu jenem 93-Jährigen, der 74 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs ab diesem Donnerstag vor Gericht steht. Bruno D. wird vom Landgericht Hamburg wegen Beihilfe zum Mord in 5320 Fällen angeklagt.

Er soll von August 1944 bis April 1945 als SS-Wachmann im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig seinen Dienst verrichtet haben. Mehr als 100.000 Juden und politische Gegner wurden dort interniert, 65.000 starben – die meisten wurden ermordet, etwa durch Genickschuss im Krematorium des Lagers oder durch die Verabreichung von Giftgas (Zyklon B).

Dass Männer wie Bruno D. nun vor Gericht stehen, „hätte schon früher passieren können“, sagt der Berliner Politologe und Antisemitismusforscher Hajo Funke zum KURIER, der sich in seinem jüngsten Buch mit der Erinnerung an NS-Verbrechen beschäftigt ("Der Kampf um die Erinnerung"). Die zuständigen Behörden und der Bundesgerichtshof waren lange nicht in der Lage und Willens dazu, so Funke. Lange hielt die BGH-Rechtsprechung an einem Grundsatzurteil aus den Sechziger fest, demzufolge Menschen, die in einem Konzentrations- oder Vernichtungslager „irgendwie tätig“ waren, nicht allein deshalb wegen der Beteiligung an nationalsozialistischen Verbrechen verurteilt werden dürfen. Zwar war der Auschwitz-Prozess zwischen 1963 und 1965 für Funke erstmal ein Durchbruch, doch die die wegen Beihilfe zum Mord Angeklagten kamen mit geringen Strafen davon.

Erst vor einigen Jahren änderte man die Rechtssprechung: Unterstützende Tätigkeiten wie Wachdienste werden im juristischen Sinn als Beihilfe zum Mord gewertet. Der Politikwissenschaftler sieht dafür den Prozess um John Demjanjuk 2011 wegweisend: Der frühere Wachmann im deutschen Vernichtungslager Sobibor wurde wegen Beihilfe zum Mord in über 28.000 Fällen verurteilt – „er wurde wegen seiner Funktion verurteilt“. Ebenso der frühere Buchhalter von Auschwitz Oskar Gröning – das Gericht sprach ihn 2015 wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen für schuldig. Er starb vor Haftantritt.

Der 93-jährige Bruno D. habe der Anklage nach als ein „Rädchen der Mordmaschinerie“ in Kenntnis aller Gesamtumstände dazu beigetragen, „den Tötungsbefehl umzusetzen“. Laut Staatsanwaltschaft gehörte es zu seinen Aufgaben die Flucht, Revolte und Befreiung von Häftlingen zu verhindern.

Wettlauf gegen die Zeit

In Deutschland laufen 23 Ermittlungsverfahren wegen solcher Verbrechen; zwölf davon sind noch offen: Sie betreffen Sachsenhausen, Buchenwald, Stutthof, Ravensbrück und auch Mauthausen. „Je weiter die Zeit fortschreitet, desto näher kommen wir dem letzten Prozess“, sagt Thomas Will zur Welt. Er ist stellvertretender Leiter der Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg, die durch Recherchen im Museumsarchiv von Stutthof auf Bruno D. gestoßen ist.

In den Vernehmungen habe der Mann zugegeben, von Tötungen gewusst zu haben; er habe gesehen wie Menschen in Gaskammern gedrängt wurden, wie Tote aus den Baracken geholt wurden. In Kameradenkreisen soll von „Judenvernichtung“ die Rede gewesen sein, gab er 2018 zu Protokoll. Ebenso, dass ihm die Menschen leid taten; mitverantwortlich fühle er sich aber nicht.

Über seine Mitschuld werden andere entscheiden. Wegen seiner eingeschränkten Verhandlungsfähigkeit wird es mehrere Termine geben - bis kurz vor Weihnachten. Ob es am Ende ein Urteil gibt oder der Prozess wie bei dem anderen Stutthof-Wachmann Johann R. eingestellt wird, ist ungewiss.

Experte Funke hält das Verfahren dennoch für sehr wichtig. Man würde etwa mehr über die Vorgänge in dem Konzentrationslager erfahren, denn über Stutthof ist im Vergleich zu Auschwitz, Buchenwalde oder Dachau wenig bekannt. Vor allem aber bietet es die Chance, „dass diese Person ihr Denken korrigiert. Das ist durchaus denkbar. Viele der damal Beteiligten hätten - ob verurteilt oder nicht - oft später mit Entsetzen wahrgenommen, dass sie falsch gehandelt haben.“ Zugleich ist es mit Blick auf die späte Aufarbeitung wichtig, zu zeigen, „dass Verbrechen nicht ungesühnt bleiben“, sagt Funke mit Blick auf die Opfer. „Sie müssen ein Recht haben, so sie noch leben, das zu bezeugen. Für den heutigen Prozesstag werden zahlreiche Überlebende und Hinterbliebene erwartet.

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