Holocaust-Überlebende: "Ich konnte den Nazis vergeben"
Die kleine Frau mit den weißblonden Locken und den knalligen Nägeln stellt den Rollator zur Seite. Sie geht zum Fenster, lächelt und blickt auf den Schwedenplatz. 1984 war sie in Wien und hatte Angst. "Ich dachte, jeder Mensch über 60 ist ein Nazi und will mir etwas antun." Ihre Tätowierung am linken Unterarm versuchte sie zu verstecken. Heute zeigt sie sie her: A-7063. Eva Mozes Kor hat Auschwitz überlebt. Und den Nazis vergeben. Darüber schrieb sie jetzt ein Buch.
KURIER: Frau Kor, Sie haben einem alten, ehemaligen SS-Mann die Hand gereicht, ihn umarmt. Er stand vor einem Jahr wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 300.000 Fällen vor Gericht.
Eva Mozes Kor: Es war eine menschliche Reaktion, nicht geplant. Ich war Nebenklägerin im Prozess und habe ihm (Oskar Gröning, ehem. SS-Obersturmführer, Anm.) gesagt, dass ich es gut finde, dass er aussagt. Er wollte mir zeigen, dass er mich mochte, umarmte mich. Es war seine Art, dies auszudrücken. Ein alter Mann, den seine Taten schmerzen. Wie könnte ich ihn zurückweisen? Es zeigte mir, dass er nicht mehr dieselbe Person ist, die er 1944 war.
Für diese Geste wurden Sie von den anderen Nebenklägern sehr kritisiert.
Ist es denn so falsch, zu hassen?
Viele Überlebende tragen Wut und Hass in sich und lassen sie nicht entweichen. Sie glauben, damit dem Täter Schmerzen zuzufügen. Oder haben Angst, dass ihnen nichts mehr bleibt, wenn sie ihre Wut loslassen. Aber sie schaden sich nur selbst.
Sie haben Oskar Gröning also vergeben?
Ja, aber ich habe ihn nicht von seiner Verantwortung befreit. Die muss er übernehmen.
Wir kamen in Viehwaggons an, sie sortierten uns innerhalb weniger Minuten aus. Die Selektionsrampe war ein 25 Meter langer und zehn Meter breiter Zementstreifen. Als ich 1984 wieder nach Auschwitz kam, konnte ich sie nicht finden. Sie war mit Gras überwuchert. Dort sah ich zum letzten Mal Mutter, Vater und meine älteren Schwestern. Es blieb keine Zeit, darüber nachdzudenken, was mit ihnen passiert. Auch später nicht. Vielleicht war das eine Art Schutzmechanismus.
Sie und Ihre Zwillingsschwester Miriam kamen zu NS-Arzt Josef Mengele. Er missbrauchte Sie für medizinische Versuche. Hat Sie das gerettet?
In Ihrem Buch beschreiben Sie Mengele so: „Er hatte weiße Handschuhe an und hielt einen Kommandostab in der Hand. Eine Gefolgschaft aus SS-Leuten und anderen Aufsehern wirbelte um ihn herum. Ihn umgab eine Aura der absoluten Macht.“ Dennoch hatten Sie keine Angst vor ihm.
Ich weiß nicht, woher diese Furchtlosigkeit kam. Vielleicht war es eine Folge, dass mein Vater mich ablehnte und ich mich immer beweisen musste. Ich war die jüngste seiner Töchter und er hätte sich einen Buben gewünscht. Er gab mir immer das Gefühl, dass alles an mir falsch war. Ich wusste aber, dass es nicht meine Schuld war. Vielleicht hat mir das geholfen.
Sie waren sehr mutig, haben sogar Kartoffeln gestohlen, um sie Ihrer kranken Schwester zu geben. So etwas wurde mit Erhängen bestraft. Woher kam Ihre Energie?
Ich erinnere mich an den Tag, wo ich am Ende unserer Baracke die Leichen von drei Kindern im Dreck liegen sah. In diesem Moment habe ich mir geschworen, alles zu tun, damit Miriam und ich nicht auf diesem Boden enden. Der Gedanke zu überleben, beherrschte alles.
Ihre Familie starb durch die Hände der Nationalsozialisten. Vor mehr als 20 Jahren auch Ihre Schwester an den Folgen der Versuche. Dafür haben Sie die Nazis doch sicher gehasst?
Sie haben lange nicht über Ihre Geschichte gesprochen. Wie haben Sie Ihren Kindern davon erzählt?
Ich habe nie ein Geheimnis daraus gemacht, wer ich bin. Ich habe jede ihrer Fragen beantwortet. Als mein Sohn drei Jahre war, kam er nach Hause und wollte wissen, warum sein Freund zwei Großmütter und Großväter hat – er aber nicht. Ich erzählte ihm, dass es böse Menschen gab, die seine Großeltern umgebracht haben. Das war die Wahrheit und reichte ihm. Ich hätte mir auch von meinen Eltern gewünscht, dass sie ehrlich zu uns sind.
Was haben die Eltern Ihnen denn verschwiegen?
Wenn ich meine Eltern nach Hitler gefragt habe, meinten sie, wir sollen uns nicht sorgen. Seine Leute werden nie zu uns ins Dorf kommen. Sie wollten uns schonen.
Es ist ein Fehler, Kindern nichts zu sagen. Ich war immer ehrlich. Auch als meine Tochter fragte, warum ich eine Nummer tätowiert habe(Sie krempelt ihren Ärmel hoch und zeigt auf ihrem linken Unterarm, Anm.)Ich erklärte ihr, dass ich diese von jenen Menschen habe, die ihre Großeltern umbrachten. Sie litt sehr darunter, dass sie die Einzige in der Klasse war, die weder Oma noch Opa hatte.
Viele der NS-Täter wurden nie bestraft. Auch ihr Peiniger kam so davon. Haben Sie je darüber nachgedacht, was Sie ihm sagen würden?
Erstens: Abgesehen davon, dass Sie ein Monster sind, vergebe ich Ihnen. Nicht weil sie es verdienen, sondern weil ich es verdiene. Zweitens: Was war der Zweck Ihrer Experimente? Was haben Sie da alles in unsere Körper injiziert? Ich weiß es bis heute nicht (Bei Eva Mozes Kor brach im Erwachsenenalter Tuberkulose aus, der Grund ist ein Erreger, der ihr in Auschwitz injiziert wurde und Jahre in ihrem Körper schlummerte. Ihre Schwester Miriam litt aufgrund eines Gifts an Nierenversagen und bekam Krebs, Anm.).
1993 haben Sie sich mit einem ehemaligen KZ-Arzt getroffen. Was erhofften Sie sich davon?
Sie fuhren zu ihm in sein Haus?
Aber Sie haben ihm verziehen?
Ich war überrascht, denn ich mochte ihn. Dafür, dass er mich respektvoll behandelte und seine Taten gestand. Ich wollte mich bedanken, wusste aber, dass man einem Nazi nicht dankt. Jeder riet mir ab. Dann kam mir die Idee, einen Brief zu schreiben. Mir wurde klar, dass er mir das größte Geschenk gegeben hat: die Kraft, zu verzeihen. Ich fühlte mich stark und mächtig. Ich konnte den Nazis vergeben.
Das haben Sie 1995 öffentlich gemacht. 50 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz.
Sie sagen, man solle alte Menschen wie den SS-Obersturmführer Oskar Gröning nicht einsperren. Was ist die gerechte Strafe für diese Verbrecher?
Sie sollen ihre Strafe in gemeinnütziger Arbeit ableisten, indem sie öffentlich die Wahrheit über die Vergangenheit erzählen, etwa in Gesprächen mit jungen Menschen. Oder ihre Erinnerungen aufzeichnen lassen, um alles zu dokumentieren, was passiert ist. Das würde Überlebenden sicher mehr helfen - vor allem wenn es um Neonnazis geht, die Geschehenes leugnen.
BUCHTIPP
Kindheit
Neuanfang
Nach dem Krieg leben Eva und Miriam bei einer Tante, ziehen 1950 nach Israel. Eva heiratet Holocaust-Überlebenden Michael Kor und geht mit ihm nach Terre Haute, Indiana. Sie bekommt zwei Kinder, arbeitet als Maklerin und gründet CANDLES (Children of Auschwitz-Nazi's Deadly Lab Experiments Survivors) sowie das "Holocaust Museum & Education Center". Über den Verein können sie mehr als 122 Überlebende der Mengele-Experimente ausfindig machen.
Kommentare