Paris will eine "Dorfmetropole" werden

Paris will eine "Dorfmetropole" werden
Die Stadt der kurzen Wege. In einer Viertelstunde soll man überall hinkommen, Kritiker warnen vor einem neuen Stress

Felicitas Schneider, Paris

Das Quartier, das Stadtviertel, hat seit dem Beginn der Covid-19-Pandemie eine ganz andere Wichtigkeit bekommen. Reisen ist auf einmal keine einfache Angelegenheit mehr. In Frankreich durften die Menschen sich zudem während der ersten zwei Lockdowns im Vorjahr für Spaziergänge nur einen Kilometer von ihrem Haus wegbewegen.

Da scheint das Konzept „Ville du quart d’heure“, das die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo umsetzen will, genau zum richtigen Zeitpunkt zu kommen.

Demnach sollen Bewohner innerhalb von 15 Minuten zu ihrem Arbeitsplatz kommen, aber auch einkaufen gehen, Konzerte besuchen und Sport machen können. Ein Vorhaben, das das Leben entschleunigen soll. Doch Kritiker fürchten, es könnte genau das Gegenteil bewirken.

Schulhof-Oasen

Das Projekt geht auf eine Idee des Franko-Kolumbianers Carlos Moreno zurück, Dozent an der IAE de Paris/Université Panthéon Sorbonne und Spezialist in Sachen Smart City. „Mein Team und ich haben uns eine Frage gestellt: Wie kann man die Bewohner von Paris glücklich machen?“, sagt er. „Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass man dafür essenzielle Dienste in unmittelbarer Nähe haben muss, um sie schnell zu erreichen und so mehr Zeit für seine Familie und Freunde zu haben.“ Schulhöfe sollen dabei zum Zentrum des Lebens im Quartier werden.

Außerhalb der Schulzeiten will man sie für alle Bewohner zugänglich machen – als sogenannte „Schulhof-Oasen“. Dafür sollen sie renoviert und bepflanzt werden, um dort Freizeit-, kulturelle und sportliche Aktivitäten zu organisieren. Seit Jänner testet die Stadt das Konzept auf einem Dutzend Schulhöfe, bis Mai sollen es 50 Schulen werden. An verschiedenen Orten im Quartier will man zudem künftig kulturelle Spektakel anbieten, außerhalb der großen Theater und Konzerthäuser – um sie allen Parisern zugänglich zu machen.

Außerdem gibt es bereits 122 sogenannte „Rue des Ecoles“-Straßen, angrenzend an Schulen, die teilweise oder ganz für Autos gesperrt sind. Künstler organisieren dort Aufführungen, Kinder können sich austoben.

Bis zum Ende ihrer Legislaturperiode 2026 will Bürgermeisterin Hidalgo 300 solcher Straßen zur Fußgängerzone machen. In sogenannten „Sport Social Clubs“ sollen die Pariser zudem künftig umsonst Sport machen können, während jemand auf ihre Kinder aufpasst oder mit ihnen Hausaufgaben macht. Kioske in den verschiedenen Arrondissements sollen ein Anlaufpunkt für Bewohner werden, wo sie sich auch gegenseitig helfen sollen. Drei solcher Kioske sind in einem Pilotprojekt bereits geöffnet.

„Die Covid-19-Krise hat die Dringlichkeit des Konzepts noch beschleunigt – unser Stadtviertel ist auf einmal zum Zentrum unseres Lebens geworden“, sagt David Belliard, stellvertretender Bürgermeister und Mitglied der Grünen Partei. So sei es seitdem umso wichtiger, so wenig Zeit wie möglich in öffentlichen Transportmitteln zu verbringen, um die Gefahr der Ansteckung zu senken.

Neue Fahrradwege

Die Stadt Paris hat auch deswegen 50 Kilometer zusätzliche Fahrradwege – sogenannte „Corona-Pisten“ – gebaut. Zudem sei Nachbarschaftshilfe, zum Beispiel fürs Einkaufen, umso wichtiger geworden. „Andererseits haben die Pariser gemerkt, wie entspannend es ist, nicht jeden Tag zwei Stunden in der Metro zu verbringen, weil sie ja von zu Hause arbeiteten.“

„Die Frage ist da: Wollen sie wirklich zu ihrem alten Leben zurückkehren?“, fügt er hinzu. Es sei daher nun umso logischer, von dem Modell der Weltmetropole zu dem der „Dorfmetropole“ zu wechseln – auch, weil das in Zeiten des Klimawandels unabdingbar sei.

Keine Entschleunigung

Doch nicht jeder ist von der Idee einer Viertelstundenstadt begeistert. Thierry Paquot, emeritierter Philosophieprofessor am Pariser Institut für Urbanismus, meint, ein solcher Ansatz sorge eher für eine Be- als eine Entschleunigung.

„Das wird dazu führen, dass auf einmal alles in einer Viertelstunde erledigt sein muss, und wenn dem nicht so ist, fühlt man sich schlecht“, sagte er dem KURIER. „Sobald wir etwas normieren, läuft das dem Individuum entgegen. Während wir versuchen, der gewinnorientierten Funktionsweise der kapitalistischen Gesellschaft zu entkommen, machen wir genau das Gegenteil.“

Anstatt alles auf eine gemeinsame Dauer zu setzen, solle man daher eher flexible Konzepte schaffen. „Manche Städte haben zum Beispiel gewisse öffentliche Arbeitgeber angewiesen, die Arbeitszeiten etwas zu verschieben, um das Straßennetzwerk zu entlasten. Dadurch verbringen die Arbeiter weniger Zeit auf der Straße und haben mehr Zeit für sich. So etwas macht viel mehr Sinn“, meint er.

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