Prävention in Schulen durch geläuterte IS-Anhänger steckt fest
Am Tag nach den Terroranschlägen im November 2015 in Paris stürmte der Verfassungsschutz fünf Mann hoch mit Gewehren im Anschlag die Wohnung eines 17-Jährigen in Wien. Der Tschetschene war ein Jahr zuvor zu einer bedingten Strafe verurteilt worden, weil er geplant hatte, nach Syrien zu reisen.
Am Tag nach den Attentaten in Brüssel kamen die Staatsschützer wieder, um nach dem Alibi zu fragen, diesmal angemeldet. "Bleibt man ewig unter Beobachtung?", fragt sich der Bewährungshelfer des Burschen.
Der Verfassungsschutz hat "unsere" Terrorverdächtigen in Freiheit also offenbar unter Kontrolle. Aber was ist mit denen, die infiziert werden könnten?
Abschreckung
Der Verein Neustart organisierte im Auftrag des Haftrichters eine Sozialnetzkonferenz zur möglichen Aufhebung der U-Haft. Das Jugendamt war eingebunden, Olivers Eltern engagierten sich, der Bursche wurde von einem Psychotherapeuten und seinem Bewährungshelfer (der an der Donau-Uni in Krems eine Ausbildung über neo-salifistischen Islamismus absolviert) betreut. Dann übernahm die Verhandlungsrichterin – und das Thema Enthaftung war vom Tisch. Der Prozess (bei dem Oliver N. von Verteidiger Wolfgang Blaschitz begleitet wurde) endete mit zweieinhalb Jahren Haft, von Präventionsarbeit keine Rede mehr.
Dabei wäre der inzwischen 17-Jährige "das ideale Role Model" (Vorbild), um dem vom IS idealisierten Bild die blanke Realität entgegensetzen zu können. Das sagt Extremismus-Forscher Moussa Al-Hassan Diaw, der mit Oliver N. seit einem Dreivierteljahr im Gefängnis ehrenamtlich am Deradikalisierungsprozess arbeitet(siehe rechts).
Historische Fakten
Diaws erster Besuch bei Oliver lief ab wie viele seiner Termine mit Radikalisierten: Der Pädagoge konfrontiert mit historischen Fakten, das Gegenüber ist in der Regel überrascht. Und beginnt, das falsch Eingelernte kritisch zu hinterfragen. Bei Oliver habe das gefruchtet, "jetzt kann er dazu beitragen, andere vom Irrweg abzuhalten."
Die Justiz setzt aber vorerst weiter auf Einsperren. Bei der Berufungsverhandlung wurden dem Gericht Berichte vom Bewährungshelfer, von der Jugendgerichtshilfe und von Diaw über Olivers Entwicklung vorgelegt. Der Senat schob sie zur Seite und vertraute nur dem Monate alten Gutachten der Gerichtspsychiaterin GabrieleWörgötter. Diese ist in ihrem Fach äußerst beschlagen, Islamismus gehört nicht zu ihrem Gebiet. Trotzdem wagte sie den Satz: "Deradikalisierung dauert Jahre" – und das saß. Was Diaw für einen "Blick in die Glaskugel" hält, war ausschlaggebend, die Strafe nicht zu reduzieren.
Nikolaus Tsekas von Neustart sagt, das sei eine "Lücke im System", dass auf nicht mehr aktuelle Expertisen zurückgegriffen wird.
Neustart knüpfte den Draht zu einer Schule, diese stimmte zu, nach einem Medienbericht stoppte der Landesschulrat das IS-Präventionsprojekt. Man sei nicht gefragt worden. Nun wird daran gearbeitet, es doch noch zu retten.
Deradikalisierung
Seit Februar dieses Jahres führt der Verein DERAD (ein Netzwerk aus Sozialarbeitern, Jugendbetreuern, Politikwissenschaftlern, Islamwissenschaftlern und Pädagogen) im Auftrag des Justizministeriums in den Gefängnissen Maßnahmen zur Extremismus-Prävention und Deradikalisierung durch. Der Extremismus-Forscher Moussa Al-Hassan Diaw und seine Kollegen verstehen die Bedürfnisse und sprechen die Sprache und der islamischen Community, damit kommen sie an Dschihadisten oder gefährdete Mit-Insassen heran.
Im KURIER-Gespräch sagt Diaw, der IS male seine Welt in bunten Farben: „Da wird eine Hauptstadt in Zuckerwatte gezeigt, mit vor Glück weinenden Menschen. Diesem idealisierten Bild muss man klassische religiöse Gegenerzählungen oder modern gestaltete Clips entgegen setzen und die triste, graue, traurige Wirklichkeit im IS zeigen.“
Wenn man solche Bilder und Videoclips ins Internet einspeist, könnten sie die dort vorherrschenden trügerischen Sujets nach und nach überlagern bzw. verdrängen. Von Verboten oder davon, bestimmte Bilder einfach aus dem Netz zu entfernen, hält Diaw nichts. Man solle den jugendlichen Usern, die ständig online sind, nur etwas anderes bieten.
Der Pädagoge plädiert dafür, im Gefängnis möglichst früh mit den Programmen zu beginnen. Sonst sei die Person die gleiche, wenn sie herauskomme. Und er rät dringend zur Betreuung auch nach der Haft.
Würden die Ärzte seit jeher nur darauf vertrauen, was sie irgendwann im Studium oder beim Turnus gelernt haben, wäre jede Blinddarmentzündung heute noch ein Todesurteil. Die Medizin entwickelt sich ständig weiter, lernt dazu, probiert Neues aus.
Und die Richter? Schicken von Generation zu Generation Straftäter ins Gefängnis, auch wenn sie wissen, dass diese bald wieder vor ihnen stehen. Dabei ist das gerade bei radikalisierten Personen brandgefährlich. "Die sind nach der Haft noch wütender", sagt der Islamismus-Forscher Al-Hassan Diaw. Der Experte setzt auf Deradikalisierung und Prävention. Er möchte geläuterte IS-Anhänger als Vorbilder für gefährdete Jugendliche nutzen. Sie sollen authentisch schildern, wie sie verblendet wurden, und wie dann die Realität ausgeschaut hat. Das wäre die Wirkung, die der bloßen Strafe abgeht.
Wenn aber dann einmal ein Richter aus dem starren System ausbricht, die Strafkeule beiseite legt und Neuland betritt, scheitert er an einer anderen Behörde, der Schulbehörde. Auch diese ist sattsam dafür bekannt, gerne an Althergebrachtem festzuhalten. Lebendiger Deradikalisierungs-Unterricht in der Schule, noch dazu vorgetragen von einem verurteilten Rechtsbrecher? Das steht doch nicht im Lehrplan.
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