Zwischen Täter und Opfer: Afghanen in Österreich

Zwischen Täter und Opfer: Afghanen in Österreich
Da sie um ihr Leben fürchten oder keine Perspektive haben, flüchten viele Afghanen nach Europa. Was Menschen aus dieser Region prägt und wie Integration gelingen kann.

Krieg, Armut und Hunger prägen seit Jahrzehnten das Leben in Afghanistan. Zudem herrscht seit 2021 wieder das radikale Regime der Taliban. Seit Jahren verlassen Menschen das Land, da sie um ihr Leben fürchten. Auch in Österreich landen immer mehr Afghanen. Hier werden sie aber häufig im Kontext mit Verbrechen wahrgenommen. Teils gibt es Probleme, viele leiden aber auch unter der Stigmatisierung. Eine Spurensuche, was Menschen, die aus Afghanistan kommen, prägt, und wie man die Integration verbessern könnte.

Die Gesellschaft

„Afghanistan ist eine hochgradig traditionelle Gesellschaft. Die Mehrheit ist sehr religiös, der Ehrbegriff ist zentral“, konstatiert die Sozialanthropologin Gabriele Rasuly-Paleczek. Der Integrationsexperte Kenan Güngör erklärt, dass sich das Leben häufig am Gewohnheitsrecht, dem sogenannten „Paschtunwali“, orientiert: „Die Familie ist immer zu beschützen, notfalls mit dem Leben, daher gibt es eine hohe Gewaltdurchdringung. Sehr wichtig ist aber auch Gastfreundschaft.“ Aus dem Gewohnheitsrecht kommt auch die strikte Geschlechtertrennung. Die Taliban versuchen, diese Regeln durch radikalislamistische Dekrete noch restriktiver zu handhaben.

Die Rolle der Frauen

Sie haben in Afghanistan ein hartes Los. „Manchmal ist die Rede von Frauen im Minirock im Kabul der 1960er-Jahre. Das war aber schon damals die Ausnahme“, beschreibt Rasuly-Paleczek. Während der Sowjet-Herrschaft lag der Frauenanteil an der Kabuler Universität bei 75 Prozent, daher gab und gibt es ein Reservoir an gebildeten Frauen. Unter den Taliban haben sie aber keinerlei Rechte.

Zwischen Täter und Opfer: Afghanen in Österreich

Gabriele Rasuly-Paleczek forscht seit 40 Jahren zu Migration aus Afghanistan.

Strenge Geschlechtertrennung

„Das ist so verinnerlicht, dass auch männliche und weibliche Verwandte in einem Raum nicht miteinander sprechen“, so Rasuly-Paleczek. Der Ehepartner wird von den Eltern ausgesucht. Frauen hören früh, dass sie weniger wert seien. Und sie sind nicht sichtbar: „Sie werden oft nicht einmal mit dem Namen, sondern als ‚Frau von ...‘ angeredet. Man darf andere nicht fragen, wie es der Schwester oder Frau geht“, so Güngör. „Hier geht es um eine Beschmutzung der Familie, über Frauen spricht man nicht. Das wäre so schambehaftet, wie wenn sich bei uns jemand öffentlich entblößt.“ Die Rolle der Frau sei Sittsamkeit: „Keuschheit als Lebensstil. Es geht nicht nur um Sexualität. Darunter fällt auch, nicht in der Öffentlichkeit zu sein und nicht von Blicken ‚besudelt‘ zu werden.“

Das Tabu der Sexualität

In Afghanistan ist das Thema Sexualität tabu. „Oft wird das so gelöst, dass schon mit 15 Jahren geheiratet wird“, erklärt Güngör. In Österreich kann der Umgang mit Sexualität unbeholfen, aber auch problematisch sein.

„Manche haben ein falsches Frauenbild, keine Erfahrungen oder Vorstellungen von romantischer Liebe, die uns veraltet erscheinen“, erklärt Rasuly-Paleczek. Aus den hier üblichen Darstellungen von Frauen folgerten manche, der Westen sei amoralisch. „Aber man kann hier nicht verallgemeinern.“

Die sexuelle Frustration bei jungen Männern könne eine Rolle spielen, sagt Güngör: „Sexualität ist überall sichtbar, aber für sie oft nicht erreichbar. Manche entwickelt dann eine Frustrationsaggression gegen das Begehrte, das nicht erreichbar ist.“

Zwischen Täter und Opfer: Afghanen in Österreich

Kenan Güngör ist Soziologe und Experte für Integration.

Nirgends erwünscht

Weil sie vor Verfolgung flüchten oder Arbeit suchen, gehen Afghanen oft nach Pakistan oder in den Iran – aber dort gelten sie als Menschen zweiter Klasse. „Zu den ärmsten Gruppen in Afghanistan zählen die Hazara“, erklärt Rasuly-Paleczek. Die aussichtslose Situation bewegt viele dann dazu, die Flucht nach Europa zu wagen.

Der Weg nach Österreich

„Legale Migration ist kaum möglich, verfolgte Journalistinnen und Richterinnen können nicht in Kabul in ein Flugzeug steigen. Aktivitäten von NGOs zu ihrer Rettung wurden vom Innenministerium bisher boykottiert“, sagt Rasuly-Paleczek. Daher sind die Menschen auf Schlepper angewiesen: Da die Routen gefährlich sind, gehen meist junge Männer. „Die Flucht nach Österreich dauert Monate. Unterwegs werden manche Burschen misshandelt oder vergewaltigt. Viele kommen hochgradig traumatisiert an.“

Angekommen im Nichtstun

Einig sind sich die befragten Experten, dass Untätigkeit nach der Ankunft kontraproduktiv ist. „Ein Problem sind lange Wartezeiten in den Asylverfahren. Burschen leben in Containern und können den ganzen Tag nur spazieren gehen. Da können auch Traumata wieder hochkommen“, konstatiert Rasuly-Paleczek.

Stigmatisierung

„Wenn Übergriffe passieren, bekomme ich SMS von Afghanen, dass sie sich schämen, Afghanen zu sein“, erzählt Güngör. Afghanen seien stigmatisiert – zugleich zeigten manche ein problematisches Frauenbild oder eine erhöhte Gewaltbereitschaft. „Wir denken oft dualistisch in der Einteilung: Täter – Opfer. Aber in diesem Fall können sie beides sein“, sagt Güngör.

Wichtig sei, nicht zu verallgemeinern, sagt Rasuly-Paleczek: „Die Stigmatisierung einer ganzen Gruppe ist ungerecht. Viele haben Bildungsambitionen und wollen in Österreich etwas leisten.“

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