"Wir haben uns neu erfunden" - wenn die Coronakrise zu Veränderung führt
Können Krisen einen Sinn haben? Die Arbeitslosigkeit ist so hoch wie noch nie in der Zweiten Republik. Noch immer sind viele in Kurzarbeit. Unsicherheit überall. Trotzdem oder gerade deswegen gibt es Menschen, die sich jetzt neu erfinden wollen.
„Viele Arbeitnehmer sind im Homeoffice zur Ruhe gekommen und haben ihre berufliche Zukunft mit Abstand reflektiert. In der Krise haben sie erkannt, was ihnen wirklich wichtig ist“, sagt der deutsche Karrierecoach Bernd Slaghuis. Es sei ein anderes Bewusstsein für Werte entstanden.
Probleme im Job, die viele Arbeitnehmer schon lange ausgehalten haben, seien noch sichtbarer geworden. Weitermachen wie bisher fühle sich für manche falsch an. Slaghuis war überrascht, wie viele Menschen sich mitten in der Corona-Krise beruflich verändern wollen.
In der Schockphase
Und es könnten noch mehr werden, meint Johann Tomaschek, Obmann des Coaching Dachverbands. „Jetzt befinden sich viele noch in der Schockphase“, erklärt er. Dabei gehe es nicht nur um Neuorientierung, sondern zunächst um ein Zurechtkommen mit der aktuellen Situation.
Also um Fragen wie: Wie strukturiere ich meinen Arbeitsalltag im Homeoffice?
Oder: Wie führe ich meine Mitarbeiter aus der Distanz?
Erst nachdem diese Fragen beantwortet seien, könne man sich Neuem widmen und reflektieren, ob man überhaupt so weiterarbeiten wolle wie bisher.
Die (freiwillige) berufliche Neuorientierung also als Massenphänomen nach der Krise? Eher nicht. Dazu ist die Realität des Arbeitsmarktes zu bitter. Sie bleibt der Schritt einiger weniger. „Am Arbeitsmarkt herrschen derzeit zu viele Probleme. Das macht es schwer umzusatteln“, sagt Thomas Grandner, Leiter des Instituts für Arbeitsmarkttheorie an der Wirtschaftsuniversität Wien.
Was auch dazu führen könnte, dass mittelfristig einige gezwungen sein werden, beruflich neue Wege zu beschreiten. „Wenn zum Beispiel der Tourismus nicht bald anspringt, ist die Branche vor allem für junge Menschen nicht mehr so attraktiv“, erklärt Grandner. Das wirke sich auf die Wahl der Ausbildung aus. Was dann allerdings weniger mit Neuorientierung zwecks persönlicher Entfaltung zu tun hat als mit der Notwendigkeit eines gesicherten Arbeitsplatzes.
Wann sich der Arbeitsmarkt wieder erholen wird, lässt sich derzeit noch nicht sagen. Die Unsicherheiten sind zu groß. Grandner: „Das hängt einerseits davon ab, wie die Pandemie weiter verlaufen wird. Und andererseits, wie sich die Situation im Ausland entwickeln wird.“ Denn Österreich ist als sehr kleines Land von seinen Handelspartnern abhängig. Es könne sogar Jahre dauern, bis die Arbeitslosenzahlen wieder auf Vorkrisenniveau gesunken sind.
Andere Lebensbereiche
Berufliche Veränderung ist jedoch nur eine mögliche Variante der persönlichen Neuorientierung. Tatjana Schnell, Psychologie-Professorin an der Uni Innsbruck, beschäftigt sich mit dem Thema Sinnforschung und sagt: „Neben der Arbeit gibt es noch viele andere sinnstiftende Lebensbereiche.“ Das Dilemma unserer Leistungsgesellschaft: Wir seien in der Eigen- und Fremdwahrnehmung zu sehr auf die Erwerbsarbeit fixiert.
Das kann durchbrochen werden. „Alle Menschen haben Träume. Die wenigsten trauen sich, sie umzusetzen“, sagt die Neo-Pariserin Julia Schindlbauer, die sich in der Krise dazu entschlossen hat, ihren Frankreich-Traum zu verwirklichen. Wann, wenn nicht jetzt, war ihr Motto: „In der Krise wird einem noch stärker bewusst, dass man keine Zeit zu vergeuden hat. Man merkt, was wichtig ist. “
Vier persönliche Geschichten über Veränderung
Ella Ort auf dem Weg zur Meditations- und Achtsamkeitstrainerin
Zehn bis zwölf Stunden am Tag zu arbeiten war für sie normal. Genauso wie der tägliche Spagat, all die Anfragen, die auf sie herein prasselten, unter einen Hut zu bringen. Doch dann kam Corona und Ella Ort wurde klar: „Ich möchte dieses Leben nicht mehr führen“, sagt sie.
Inmitten der bisher schlimmsten Krise der Zweiten Republik mit über einer halben Million Arbeitslosen, entschied sich die 47-jährige Wienerin für einen mutigen Weg. Sie ließ ihr Leben als Leiterin der Kommunikationsabteilung der Österreichischen Apothekerkammer hinter sich und beschritt beruflich komplett neue Pfade .
„Die Pandemie hat etwas in mir bewirkt und so habe ich mich von dem Job, aus der Branche und aus diesem ganzen Leben verabschiedet“, erzählt Ort. Jeden Tag ins Büro zu gehen, ohne zu wissen, was der Tag an neuen Herausforderungen bringe, habe ihr zwar auch viel Spaß gemacht, „aber es war natürlich anstrengend“. Personalrochaden in ihrer Abteilung gaben den letzten Anstoß zum neuen Leben: Sie hat eine Ausbildung zur Achtsamkeits- und Meditationslehrerin begonnen.
Bis Jahresende will sie sich mit ihrer Berufung selbstständig machen und künftig Menschen helfen, etwa ihren stressigen Büroalltag zu bewältigen. Jenem Alltag, dem sie entflohen ist. Sie glaubt, ohne Pandemie und anschließendem Lockdown wäre ihr dieser Schritt nicht gelungen. „Ich habe viel über mein Leben nachgedacht und mich gefragt, was am Ende übrig bleibt.“
Ihre Erkenntnisse: Sie wolle nie wieder auf diese Weise im PR- oder Marketingbereich arbeiten, sondern ihrem „Herzensweg“ folgen. Und: Multitasking sei keine erstrebenswerte Eigenschaft, sondern eine völlig falsche Entwicklung. „Es ist schöner, sich einer Sache voll und ganz hingeben zu können.“ Nun ist Ella Orts Leben weniger turbulent. Die Pandemie sei für sie ein Glücksfall gewesen. „Ich bin dankbar, dass sich mein Leben in diese Richtung entwickelt hat.“
Julia Schindlbauer ging nach Paris
Der Moment, in dem plötzlich alles anders war? Er kam mitten im Lockdown. „Meine Chefin rief mich an und fragte, wann ich zurückkomme. Auf einmal wusste ich: Ich komme gar nicht zurück. Ich bleibe in Paris. Ich gehöre hierher.“
Im Jänner kam Julia Schindlbauer auf Bildungskarenz nach Paris und sollte im August wieder nach Wien. In der Zeit des Lockdowns, als man in Paris nur unter bestimmten Auflagen hinausdurfte, ging sie täglich hunderte Male mit ihrer Hündin Sansa um den Häuserblock. Und grübelte.
Julia Schindlbauer stammt aus Traunkirchen in Oberösterreich, einem beschaulichen Ort mit gerade einmal 1.600 Einwohnern. Schon als Kind träumte sie von Paris. In Paris feierte sie nun mitten in der Krise ihren 29. Geburtstag und wurde nachdenklich: „Ich dachte mir, jetzt wird es Zeit, meine Träume zu verwirklichen. Je länger man wartet, desto schwieriger wird es, sich auf Abenteuer einzulassen.“ Sie gibt viel für dieses Abenteuer auf. Freunde, Familie, den Traunsee. „Aber wenn ich jetzt zurückgehe, dann komme ich wohl nicht wieder. Es ist ein aufregender Moment, wenn man sein Schicksal selbst in die Hand nimmt.“
Was man aufschiebt, das macht man nicht mehr: „Man muss alle Möglichkeiten, die man hat, ausnützen, nichts auf später verschieben. Ich weiß nicht, ob ich für immer hierbleibe. Wer weiß schon, was das Leben bringt. Aber wer sich nicht darauf einlässt, wird es nie erfahren.“ Julia hat Glück, sie bekommt viel Unterstützung. Von Paris aus wird sie ein Frankreich-Projekt ihres Wiener Arbeitgebers betreuen.
Ihre Eltern sind natürlich traurig, dass sie so weit weg ist, aber sie halten zu ihr. Besonders die Mutter, eine Französischlehrerin, ist enorm stolz auf ihre Tochter. Vielleicht auch, weil sie einst selbst in Paris leben wollte. „In der Krise wird einem noch stärker bewusst, dass man keine Zeit zu vergeuden hat. Ja, man denkt über den Sinn des Lebens nach. Man merkt, was wichtig ist. Ich glaube, es sind die Träume, die wichtig sind.
Mira Longe und Adam Kai wurden zu Produzenten
Sie sind als Musiker und auch privat ein Paar. Gemeinsam leben, gemeinsam Musik machen. Der Rückschlag, den die Krise für Mira Long und Adam Kai gebracht hat, war gigantisch. Anfang März waren die beiden auf Tour in Deutschland, als Corona sie zur plötzlichen Heimreise zwang. Alle Konzerte, alle Termine waren mit einem Schlag abgesagt. Plötzlich hatten sie nichts mehr als wahnsinnig viel Zeit. Auch zum Nachdenken. „Für uns war das Ganze ein ziemlicher Schock.
Wir wussten nicht, wie es weitergehen wird, aber wir haben gehofft, dass das, was wir uns über die Jahre erarbeitet haben, nicht einfach verloren geht. Es war zu diesem Zeitpunkt schwer, einzuschätzen, ob es überhaupt wieder weitergeht. Die Konzertabsagen haben sehr weh getan und eine Weile waren wir echt verzweifelt.“ Den Musikern war allerdings schnell klar, dass sie versuchen wollen, das beste aus der Situation zu machen. Statt vergebens auf Hilfe zu warten beschlossen sie, sich neu erfinden.
Für den Frühsommer war schon länger die Veröffentlichung eines neuen Songs geplant. Allerdings unter anderen Bedingungen. Corona hat die Karten neu gemischt. So wie sonst, ins Studio gehen, war plötzlich keine Option mehr. Mira und Adam nahmen die Herausforderung an und wurden kurzerhand zu Heimproduzenten. Den Song „Irgendwann“, geschrieben in der Quarantäne, nahmen sie im provisorisch umgebauten Wohnzimmer auf.
Auch das dazugehörige Musikvideo dazu wurde in Heimarbeit gedreht und geschnitten. „Ich weiß nicht, ob wir ohne diese Krise so viel über uns und unsere Arbeit gelernt hätten. Die Krise hat uns ermutigt, neue Wege zu gehen. Neues auszuprobieren und auf uns selbst zu hören“, sagt Mira Long. Schön langsam trudeln dieser Tage wieder Buchungen herein, aber die Selbstständigkeit, die ist nach wie vor nicht „easy“.
Jiaran Wang wurde kreativ und digital
Alles, was bisher ihr Leben ausgemacht hatte, war durch die Corona-Pandemie nicht mehr möglich. Keine Auftritte mehr, kein direkter Unterricht und kein persönlicher Kontakt zwischen ihrer alten und ihrer neuen Heimat. Jiaran Wang war vier Jahre alt, als sie das erste Mal in ihrem Geburtsland China vor einem Klavier saß.
Heute ist sie 31, lebt in Österreich und ist studierte Musikerin. Darüber hinaus setzt sie sich beruflich mit ihrer Agentur für einen besseren Business-Austausch zwischen Österreich und China ein. Sind die beiden Länder doch sehr unterschiedlich. Auf einer nachhaltigen, bewussten Zusammenarbeit von Unternehmen auf den beiden Märkten liegt ihr Fokus.
Beide Standbeine begannen durch Corona zu wackeln. Die Krise hat ihr Leben auf den Kopf gestellt. Sämtliche Projekte zwischen Österreich und China wurden auf unbestimmte Zeit verschoben. Der Flugverkehr kam völlig zum Erliegen, niemand konnte und wollte Veranstaltungen machen, geplante Workshops und sämtliche Events wurden abgesagt.
Als Musikerin und Komponistin hatte sie plötzlich keine Aufträge und Auftrittsmöglichkeiten mehr. Die Corona-Krise war also auch für Jiaran Wang persönlich eine veritable Krise. Also hat sie in kürzester Zeit, ihre Arbeit auf digital umgestellt und bietet ihre Dienstleistungen in kreativ-angepasster Weise an.
Vor allem habe ihr der Glaube weitergeholfen, dass, solange man am Leben ist, es immer einen Weg gibt. Das pflegte ihr Vater zu sagen, auch er ein Unternehmer. Seine Worte hätten sie „über Wasser“ gehalten, nicht nur finanziell, sondern auch psychisch. „Es war hart, aber ich habe diese Veränderung überstanden und viel dazu gelernt.“ Die Krise hat Jiaran Wang auch näher zu ihrer Familie, ihren Mitmenschen und ihren Wurzeln gebracht. „Mir wurde bewusst, dass wir die Zeit, die wir haben, richtig nutzen sollen. Denn das Leben kann sehr kurz sein. “
Jobzufriedenheit
Jeder und jede fünfte Beschäftigte in Österreich würde gerne den Job wechseln. Besonders hoch ist der Anteil in der Gastronomie, im Tourismus und im Handel. Das geht aus dem Österreichischen Arbeitsmarkt Index hervor. Zwölf Prozent der Befragten wollen sogar einen komplett anderen Beruf. Entweder, weil sie die wirtschaftliche Situation ihres Betriebes negativ beurteilen, mit ihrer eigenen Tätigkeit unzufrieden sind oder den Führungsstil als schlecht empfinden.
Rolle des Chefs oder der Chefin
Generell spielt der Vorgesetzte eine wesentliche Rolle bei der Jobzufriedenheit. Eine Stepstone-Umfrage ergab, dass 41 Prozent mit ihrem Chef unglücklich sind. Und fast jeder zweite Österreicher hat deswegen schon einmal gekündigt.
Arbeitslos
Derzeit sind 480.896 Menschen in Österreich arbeitslos gemeldet. Dazu zählen auch jene, die sich in Schulungen befinden. Der Höchststand der Arbeitslosigkeit war Mitte April, zu diesem Zeitpunkt waren es 587.896 Arbeitslose.
1,139 Millionen befinden sich nach wie vor in Kurzarbeit.
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